Für sein sechstes Jahresgutachten hat der SVR beschlossen, einen Blick über den Tellerrand zu werfen und die Einwanderungs-Strategien von 12 Ländern zu vergleichen. "Unter Einwanderungs-Ländern: Deutschland im internationalen Vergleich" heißt die Studie, für die die Migrations- und Integrationspolitik in Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Kanada, den Niederlanden, Österreich, Schweden, Schweiz, Spanien, Ungarn und den USA miteinander verglichen wurde. Das zentrale Ergebnis: im internationalen Vergleich steht die Bundesrepublik relativ gut da.
„Deutschland reiht sich im internationalen Vergleich in die Riege fortschrittlicher Einwanderungsländer ein“, sagt SVR-Vorsitzende Christine Langenfeld. Denn in vielen Bereichen des Migrationsmanagements und der Integrationsförderung habe Deutschland in den letzten Jahren deutlich aufgeholt. Dennoch könne die Bundesrepublik auch noch viel von Beispielen anderer Länder lernen, schreiben die Experten.
Nach der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Medien bei der Vorstellung der Studie allerdings vor allem auf eine Frage: Wie kann man Flüchtlingsbewegungen steuern? Für die elf Wissenschaftler, die den Sachverständigenrat bilden, lässt sich diese Frage nur im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik beantworten.
2013 hatte der eigenständige Forschungsbereich des SVR einen neuen Verteilungsschlüssel für Asylsuchende in der EU vorgeschlagen: Anstelle des sogenannten Dublin-Systems, nach dem für jeden Asylbewerber das Land zuständig ist, in dem er zuerst registriert wird, schlugen die Forscher damals einen Verteilungsschlüssel vor, der sich an Bevölkerung und Wirtschaftsstärke des Landes orientiert.
Der SVR bringt im diesjährigen Jahresgutachten einen neuen Vorschlag ein, der beide Systeme kombiniert: Es brauche einen europäischen Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge, die "Soforthilfe" brauchen, wie etwa Kriegsflüchtlinge aus Syrien oder Irak. Gleichzeitig solle das Dublin-System für die Erstaufnahme der sonstigen Asylsuchenden bestehen bleiben, welches allerdings mit einem "Free Choice"-Prinzip gekoppelt wird. Das bedeutet: Wenn Menschen Schutz anerkannt bekommen, sollen sie selbst entscheiden können, in welchem EU-Land sie leben wollen.
Da die Mehrheit der Flüchtlinge in Südeuropa ankommen und sich dennoch in wirtschaftlich stärkeren nordeuropäischen Ländern niederlassen wollen, würde dieses Prinzip eine doppelte Wirkung haben: Einerseits würden Länder wie Deutschland davor bewahrt werden, jährlich Hunderttausende Asylanträge zu bearbeiten. Andererseits würden die Grenzstaaten Asylsuchende nur für die Dauer des Asylverfahrens unterbringen müssen. Dafür sollen diese finanzielle Unterstützung von der Europäischen Union erhalten.
Auch zu anderen Themen nahmen die SVR-Experten im Jahresgutachten Stellung.
Arbeitsmigration: gute Rechtslage, fehlendes Marketing
Anders als einige Politiker kürzlich erklärten, müsse sich Deutschland in Sachen Arbeitsmigration nicht an Ländern wie Kanada orientieren. Lange Zeit konnten Einwanderer, die aus Ländern außerhalb der EU kommen wollten, nur mit einem bestehenden Arbeitsvertrag einwandern. Das hat sich geändert: Während Deutschland in den letzten Jahren allmählich von dieser Regelung abgerückt ist, hat sich Kanada dieses Prinzip immer mehr zu Eigen gemacht.
Einwanderungsländer weltweit steuern also zunehmend auf einen Mittelweg zu: Sie berücksichtigen einerseits, wie die berufliche Perspektive der Einwanderungswilligen aussieht – sprich: ob sie einen Arbeitsplatz haben oder nicht – und andererseits, wie qualifiziert Einwanderungswillige sind. Was nach der Auffassung der Experten in Deutschland fehlt, sei jedoch eine Marketing-Strategie, die Deutschland als Einwanderungsziel für qualifizierte Arbeitskräfte platziert. Das Bonner Institut für die Zukunft der Arbeit (IZA) hat kürzlich in dieser Hinsicht auf Australien verwiesen, wo Migranten von kurzfristigen "Schnuppervisa" zu langfristigen Arbeitsvisa wechseln können, wenn ihnen das Land gefällt.
Einwanderungspolitik: Deutschland braucht ein Gesamtkonzept
Migration- und Integrationspolitik fangen nicht erst in Deutschland an. Sie beginnen bei den Botschaften im Ausland und enden in den lokalen Gemeinden, wo sich Einwanderer niederlassen. An diesem langen Prozess seien mehrere institutionelle Akteure beteiligt, erklären die Experten vom SVR. Um ihre Arbeit zu koordinieren benötige es ein Migrationskonzept, das von einem "Lenkungsauschuss" beziehungsweise einer "Experten-AG" erarbeitet werden kann. Wichtig sei dabei, ein „breit getragenes Selbstverständnis von Deutschland als Einwanderungsland“ in der Bevölkerung zu fördern, so Langenfeld.
Blaue Karte-EU: Erfolg in Deutschland, Herausforderung für andere
Die Blaue Karte-EU erlaubt es hochqualifizierten Drittstaatern, die einen Arbeitsvertrag in einem EU-Land haben, sich vier Jahre im Schengengebiet aufzuhalten. Mehr als 90 Prozent aller Blauen Karten wurden in Deutschland ausgestellt: „Ein Erfolg für Deutschland" nennen es die SVR-Experten. Dennoch müsse man beachten, dass lediglich rund 20.000 Menschen mit einer Blauen Karte-EU nach Europa eingewandert sind – das entspricht weniger als einem Prozent aller Zugewanderten der letzten zwei Jahre. Außerdem sei Deutschland aufgrund der Eurokrise eines der wenigen EU-Länder, in denen es überhaupt einen Fachkräfte-Bedarf gab.
Außerdem schlägt der SVR in seinen Kernbotschaften vor:
- ausländische Absolventen deutscher Hochschulen durch Arbeitsangebote länger im Land zu behalten,
- den Bildungsaufstieg von Einwanderer-Kindern durch Sprachbildung zu stärken,
- Möglichkeit einzuführen, bis zur zweiten Generation die doppelte Staatsangehörigkeit zu behalten ("Generationen-Schnitt"),
- neue Begriffe und Narrative für die Einwanderungsgesellschaft zu entwickeln.
Von Fabio Ghelli
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