Etwa ein Drittel der Menschen, die in Deutschland einen Asylantrag stellen, sind Frauen. Sie kommen über Land- und Seewege, teilweise ohne männliche Begleitung und mit Kindern. In Deutschland angekommen erhoffen sie sich Schutz, landen zunächst jedoch wie alle anderen Geflüchteten in Massenunterkünften, in denen sie mit neuen Gefahren konfrontiert sind. Worin genau diese liegen, wollte der MEDIENDIENST herausfinden und lud Journalisten zu einer Medien-Tour ein.
"In manchen Flüchtlingsunterkünften traut sich eine Frau nachts nicht alleine auf die Toilette", erzählt Amal, die ihren Nachnamen nicht nennen will. Die junge Somalierin floh 2010 nach Deutschland und verbrachte mehrere Monate in Sammelunterkünften. Sie schildert, dass es dort oft an getrennten sanitären Anlagen, Privatsphäre und weiblichen Übersetzerinnen fehle. Mittlerweile lebt sie in einer Privatwohnung und engagiert sich bei "Women in Exile", einer Organisation von und für geflüchtete Frauen.
Hier berichten ihr viele von Übergriffen, teils durch eigene Familienmitglieder, oft durch das Personal in den Unterkünften. Von den Wachleuten und Angestellten geht laut Amal eine besonders große Gefahr aus, da sie ihre Machtposition gegenüber den Frauen leicht ausspielen könnten. "Wenn mich ein Bewohner bedrängt, kann ich mich beim Personal beschweren, aber wenn mich der Heimleiter belästigt – zu wem soll ich dann gehen?"
Bilder der Medien-Tour am 03.03.2016
Es gibt keine Zahlen zu Übergriffen
Wie viele geflüchtete Frauen tatsächlich von Gewalt betroffen sind und durch wen, ist unklar. Statistiken hierzu gibt es nicht. Erfahrungsberichte von Sozialarbeiterinnen und Befragungen zeigen jedoch, dass Frauen durchaus häufig Gewalt erfahren. Eine der wenigen Studien, die vorliegen, ist von 2004 und nicht repräsentativ:
- Demnach gaben 79 Prozent der geflüchteten Frauen an, in Deutschland psychischer Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein,
- 51 Prozent sprachen von körperlicher Gewalt
- und 25 Prozent von sexueller Gewalt. Die Täter waren Beziehungspartner, fremde Personen, Mitbewohner sowie Personal in Unterkünften. (Quelle)
Die Rechtsanwältin Inken Stern erklärt dazu: "Meist kommt es nicht zu Anzeigen oder Beschwerden, da Frauen nicht unbequem auffallen möchten und negative Auswirkungen auf ihr Asylverfahren fürchten." Die Sorge, dass sich eine Beschwerde negativ auf die Entscheidung auswirkt, sei jedoch meist unbegründet. Auch bei häuslicher Gewalt hängen die Folgen für das Verfahren vom Einzelfall ab: Wenn sich der Asylantrag nur auf die Situation des Mannes bezieht, ist die Entscheidung über den Verbleib der Partnerin davon abhängig, dass beide verheiratet sind (§ 26 Asylverfahrensgesetz). Doch oft haben Frauen laut Stern eigene Fluchtgründe vorzuweisen.
Die Asylrechtsanwältin bedauert, dass "posttraumatische Belastungsstörungen" seit den Asylrechtsverschärfungen von Februar 2016 nicht mehr vor einer Abschiebung schützen. Traumatische Erlebnisse auf der Flucht und in Deutschland bewahren die Frauen also nicht davor, zurückgeschickt zu werden.
In Unterkünften fehlen Schutzmaßnahmen für Frauen
Übergriffe kämen auch deswegen so selten ans Tageslicht, weil es keine Beschwerdemöglichkeiten für Frauen gebe, erklärt Nivedita Prasad, Professorin an der Alice-Salomon-Hochschule. "Frauen fürchten sich nicht nur vor möglichen Auswirkungen auf ihr Verfahren, sondern wissen meist auch schlichtweg nicht, an wen sie sich wenden können."
Es fehlten einheitliche Standards in deutschen Flüchtlingsunterkünften: "Wir brauchen klare Beschwerdeverfahren und Gewaltschutzkonzepte", so Prasad. Gemeinsam mit Studenten und Kollegen ihrer Hochschule organisiert sie seit 2013 Lehrveranstaltungen in der Asylbewerber-Unterkunft in Hellersdorf, gegen die in der Vergangenheit Proteste stattfanden. Die Unterkunft ist ein umfunktioniertes, leerstehendes Schulgebäude. Die Menschen leben hier auf engstem Raum. Neben baulichen Mängeln fehle es aber auch an Schutzmaßnahmen für Frauen. Grundsätzlich gelte: "Unterkünfte, in denen es nicht ausreichend getrennte sanitäre Anlagen und keine Privatsphäre gibt, begünstigen Gewalt", so die Expertin.
Mitte März will der Berliner Senat die erste Unterkunft in der Hauptstadt eröffnen, die nur für Frauen vorgesehen ist. Staatssekretärin Barbara Loth erklärt, warum das bislang noch nicht geschehen ist: "Lange ging es vor allem darum, den vielen Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf zu sichern. Nun arbeiten wir verstärkt daran, besonders Schutzbedürftigen, wie allein reisenden Frauen und LGBT-Flüchtlingen, Schutzräume bereitzustellen." ("LGBT" kürzt die englischen Begriffe Lesbian, Gay, Bisexuell und Transgender ab).
Flüchtlinge haben ein Recht auf Schutz vor Gewalt
"Der Schutz von Frauen wurde zu lange nicht mitgedacht", kritisiert die Juristin Heike Rabe vom "Deutschen Institut für Menschenrechte". Dabei gibt es bereits seit 2013 eine EU-Richtlinie, die Mindeststandards zur Unterbringung von besonders Schutzbedürftigen vorschreibt. Seit Juli 2015 hätte Deutschland die Richtlinie in nationales Recht umsetzen müssen, doch das steht bislang aus.
Häusliche Gewalt sei bei weitem kein Phänomen, dass nur Flüchtlinge betrifft. Doch der Schutz von Frauen wird im Fall von Asylsuchenden zusätzlich erschwert. Das Prinzip "bei häuslicher Gewalt muss der Täter gehen" kollidiere beispielsweise mit der Auflage, dass Asylsuchende in der Erstaufnahmestelle oder Gemeinschaftsunterkunft bleiben müssen. "Die Situation der betroffenen Frauen wird also vom Ausländerrecht dominiert, das nicht auf Gewaltschutz ausgerichtet ist", so Rabe. Darauf weist sie auch in einem "Policy Paper" hin, das sie im vergangenen Jahr verfasst hat.
Wie sich geflüchtete Frauen in Gemeinschaftsunterkünften sicher fühlen können, zeigt das Beispiel der Schwestern Samah (22) und Zahraa (30): Die zwei Frauen aus dem Irak haben sich allein mit Zahraas sieben Jahre alter Tochter auf die Flucht begeben. Mehrmals mussten sie auf der Straße schlafen, die Mutter verlor für einige Zeit ihr Kind aus den Augen. Die Situation war oft gefährlich. Nun leben sie im Georg-Kriedte-Haus und schildern, wie wohl sie sich hier endlich fühlen. Das Evangelische Jugend- und Fürsorgewerk in Berlin-Lichtenrade bietet einen bunten Spielraum für Kinder, abgetrennte Schlafräume und ausreichend sanitäre Anlagen, sowie viele engagierte Ansprechpartnerinnen für Frauen. Dafür setzt sich Leiterin Christiane Wahl aus Überzeugung ein: "Gerade in Not-Situationen ist es wichtig, die Lebensumstände von Frauen von Anfang an mit zu berücksichtigen."
Von Milena Jovanovic
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