Der siebte Integrationsgipfel im Bundeskanzleramt ist vorbei. Es ging vor allem um die Erhöhung der Ausbildungsbeteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund und um die Erhöhung der Ausbildungsbereitschaft von Betrieben. Das schloss an den Erfolgs- und Mängelbericht der Integrationsbeauftragten zur Situation in Deutschland an. Eingeladen waren, wie immer, Vertreterinnen und Vertreter von Bund, Ländern und Kommunen, von Migrantenorganisationen und anderen nichtstaatlichen Akteuren.
Dieser Gipfel war ein Erfolg, nicht zuletzt deswegen, weil er themenzentriert war und nicht in alle möglichen Richtungen zerfaserte. Das hatte mit dem guten Zusammenspiel der Bundeskanzlerin mit der Integrationsbeauftragten des Bundes zu tun, aber auch mit der Gesprächs- und Diskussionsdisziplin der Teilnehmer. Ergebnis dieses Austauschs auf höchster Ebene: Vieles ist entschieden besser geworden. Aber es gibt noch viel zu tun auf den Baustellen Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarktbeteiligung und damit im Bereich der messbaren Teilhabe an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens – so eine gängige Integrationsdefinition.
Es ging freilich im Grunde immer um die Integration der Anderen: derjenigen mit Migrationshintergrund, zum Teil auch derjenigen ohne denselben, aber mit ebenfalls reduzierten Teilhabechancen aus den verschiedensten Gründen. Und dabei ging es vor allem um Sozialtechnologie und um den Versuch, so der geläufig gewordene Kanzler-Sprech, die entsprechenden "Herausforderungen" durch geeignete Maßnahmen wie Fördern und Fordern "hinzubekommen". Aber Menschen haben nicht nur wirtschaftliche Stellungen und soziale Lagen, sondern auch mentale Probleme. Das hatten wir doch schon mal: Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen …
Gute Vorsätze prallen auf Versäumnisse
Und Mentalitäten, die durch jahrzehntelange Benachteiligung in den verschiedensten Erfahrungsbereichen und Gefühlswelten verletzt worden sind, kann man nicht ohne weiteres sozialtechnologisch wieder "hinbekommen", so als wäre nichts geschehen. Auch das, was ich einmal "nachholende Integrationsförderung" genannt habe, greift hier zu kurz. Wir müssen uns also noch mehr einfallen lassen.
Prof. Dr. KLAUS J. BADE ist Migrationsforscher, Publizist und Politikberater. Er war u.a. Gründer des Osnabrücker Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), des Rats für Migration (RfM) und des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR).
Gute Vorsätze für morgen ändern nichts an den Folgen der Versäumnisse von gestern. Und diese Versäumnisse werden auch durch die sogenannte "Willkommenskultur" nicht aufgefangen, die auf dem Gipfel mehrfach beiläufig angesprochen wurde, denn die richtet sich gerade nicht an die zähneknirschend akzeptierten sozial Benachteiligten oder im Integrationsprozess Steckengebliebenen von gestern. Sie zielt auf die hoch erwünschten, möglichst qualifizierten Neuzuwanderer von heute und morgen. Sie vermehrt dadurch umso mehr das Empfinden der Benachteiligung bei denen, die aus Familien stammen, die statt Willkommenskultur immer nur einseitige Anpassungsforderungen erfahren haben.
Es gibt aber auch auf Seiten der Mehrheitsbevölkerung ohne Migrationshintergrund viele Menschen, die nach wie vor in der Einwanderungsgesellschaft nicht angekommen sind und sich durch deren rasante und vor allem eigendynamische Entwicklung immer mehr als "Fremde im eigenen Land" fühlen.
Es gibt in Deutschland eine Art Kulturparadox: auf der einen Seite die still wachsende Zahl der Kulturoptimisten oder doch Kulturpragmatiker, die kulturelle Vielfalt als alltägliche Normalität akzeptieren; auf der anderen Seite die leicht schrumpfende, aber umso lauter protestierende und demonstrierende Gruppe der Kulturpessimisten. Die verstehen Vielfalt als Bedrohung und projizieren ihre Sorgen und Ängste ersatzweise vor allem auf die Schwächsten der Schwachen, auf Flüchtlinge, Asylsuchende und so genannte Armutswanderer – von "Hogesa" über "Pegida" bis zu dem geklauten Refrain "Wir sind das Volk".
"Wir müssen Rechtspopulisten die Kampfthemen entziehen"
Politik hat in diesem Land über Jahrzehnte hinweg, insbesondere zu Wahlkampfzeiten, die Angst vor "Fremden", vor "unkontrollierter Zuwanderung" genährt und die zunehmend wirklichkeitsfremde Legende hochgehalten, dass Deutschland "kein Einwanderungsland" sei. Heute ist Migrationspolitik unter dem Druck des demographischen Wandels mit Siebenmeilenstiefeln der öffentlichen Wahrnehmung enteilt. Sie hat, auch nach Auffassung der OECD, das offenste Zuwanderungsrecht in den westlichen Industriestaaten geschaffen – und dabei die Mehrheitsbevölkerung in weiten Teilen ratlos zurückgelassen. Deswegen gehen neue Ängste um, die von rechtspopulistischen Rattenfängern ausgebeutet werden.
Es geht also heute nicht mehr nur um die "Integration der Migranten". Es geht um teilhabeorientierte Gesellschaftspolitik für alle, ob mit oder ohne den Migrationshintergrund, der Menschen aus Einwandererfamilien anhaftet wie ein erbliches Sündenregister. Und es geht, in freilich weit geringerem Umfange, auch um eine Art "Integration der Mehrheitsbevölkerung" in dem rasanten kulturellen und sozialen Wandel, der das Gesicht der Einwanderungsgesellschaft stets aufs Neue verändert.
Solange der Gedanke der eigenen "Integration" in die Einwanderungsgesellschaft von der Mehrheitsbevölkerung als anmaßende Beleidigung durch eine "vaterlandslose Migrantenlobby" missverstanden wird, sind weite Teile dieser Mehrheitsbevölkerung in der Einwanderungsgesellschaft noch nicht angekommen.
Das kann zu schwerwiegenden Problemen führen, denn Einwanderung und Islam sind die beiden wichtigsten Bindemittel aller rechtspopulistischen Parteien und Strömungen in Europa. Es geht darum, ihnen durch kluge Argumente und pragmatische Politik die Kampfthemen zu entwinden. Gelingt das nicht, können schwere kulturelle und soziale Konflikte in der Einwanderungsgesellschaft die Folge sein.
Die Lage ist also erfreulich und ernst zugleich. Wie wäre es vor diesem Hintergrund einmal mit einem Integrationsgipfel zum Thema "Integration der Deutschen ohne Migrationshintergrund"? Für die Kulturoptimisten wäre das vielleicht ein pragmatischer Vorschlag, für die Kulturpessimisten mit Sicherheit buchstäblich "der Gipfel".
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