Klaus J. Bade in „Kritik und Gewalt – Sarrazin-Debatte, ‚Islamkritik‘ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft“:
Deutschland blieb lange ein in seiner Selbsterkenntnis verspätetes Einwanderungsland wider Willen. Es litt an der aus der defensiven Erkenntnisverweigerung seiner politischen Eliten resultierenden realitätsfernen Selbstdefinition als ‚Nicht-Einwanderungsland‘. Daraus resultierte eine starke Unterschätzung der eigenen Integrationskraft als Einwanderungsgesellschaft, verbunden mit Ängsten vor kultureller ‚Überfremdung‘, sozialer Überforderung, ökonomischer Benachteiligung und daraus resultierenden Abwehrhaltungen.
Die paradox wirkende Tatsache, dass ethnische und kulturelle Pluralität von einer wachsenden Mehrheit und insbesondere von jüngeren Menschen als selbstverständliche Alltagserfahrung akzeptiert wird und sich zugleich schrille gruppenfeindliche Töne zu Wort melden, ist nur ein scheinbarer Widerspruch: Gerade die Tatsache, dass die Alltagsrealisten der Einwanderungsgesellschaft die ethnische und kulturelle Pluralität mit zunehmender Gelassenheit akzeptieren, alarmiert die schrumpfende und deshalb umso lautstarker warnende Gruppe der Zivilisationskritiker, Kulturpessimisten und Kulturrassisten, deren publizistische Meinungsführer oft von einem statischen, möglichst wenig zu verändernden und vor allem gegen kulturelle ‚Überfremdung‘ zu verteidigenden Kulturverständnis ausgehen.
Ergebnis dieser paradoxen Spannung ist eine gefährliche Ersatzdebatte anstelle jener überfälligen Diskussion um die neue Identität in der Einwanderungsgesellschaft. Das Buch beschreibt diese Ersatzdebatte als negative Integration: Integration durch partielle Segregation im Sinne der erwähnten Selbstvergewisserung der Mehrheit durch die Ausgrenzung einer großen – muslimischen – Minderheit.
Die von der Desintegrations-Publizistik im Kontext der Sarrazin-Debatte präsentierten integrations- und insbesondere ‚islamkritischen‘ Informationen und vorgeblich wirklichkeitsgetreuen Bestandsaufnahmen operierten oft mit vordergründig korrelierten Daten, hintergründig raunenden Andeutungen und anekdotischer Evidenz in an Plattversionen scholastischer Beweisführung erinnernden vulgärrationalistischen Argumentationszirkeln.
Sie führten in den argumentativ anschließenden, aber zum Teil, wie im Falle von PI [Politically Incorrect], mitunter auch in Pionierfunktion vorauseilenden Weblogs, Netz- und Hetzwerken sowie in direkter Korrespondenz zu Belästigungen und Beleidigungen durch massenhafte Hassmails, zu Einschüchterungsversuchen, Bedrohungsaufrufen im Internet und nicht selten auch zu direkten konkreten Bedrohungen.
Mit Integration und Migration beschäftigte Wissenschaftler sind bei öffentlichen Veranstaltungen mitunter nach wie vor auf Saalschutz oder gar Personenschutz angewiesen, weil sie zum Teil als ‚Volksverräter‘ auf neonationalsozialistischen und ideologisch angrenzenden Fahndungslisten bzw. Feme-Aufrufen stehen, die Historikern aus der deutschen Geschichte sicher besser bekannt sind als der Polizei. Konkrete Hilfe durch entsprechende Ermittlungen konnte uns niemand bieten. Über Saal- und Personenschutz hinaus waren ,unseren Diensten‘ hier, wie wiederholt mitgeteilt wurde, durch mangelnde Zuständigkeit, geltendes Medienrecht und andere widrige Umstände leider die Hände gebunden. Von wem eigentlich, haben wir uns oft gefragt.
Es gibt [...] fließende Grenzen zwischen einer ‚Islamkritik‘ im Sinne der friedlichen Auseinandersetzung z.B. mit islamischen Lehrtraditionen [...] und einer aggressiv kämpferischen, ganze Religions- und Bevölkerungsgruppen denunzierenden und diffamierenden islamfeindlichen Agitation. Die zwischen diesen beiden Polen oszillierende ‚Islamkritik‘ hat – sicher weithin nicht absichtsvoll, aber als stete Berufungsinstanz de facto – den Boden bereitet für eine fundamentalistische Islamophagie, die in den sumpfigen Abgründen der Internetblogs wütet und deren giftiger Smog zunehmend die Kommentarspalten der übrigen medialen Online-Welt überzieht.
Prof. Dr. KLAUS J. BADE ist Migrationsforscher, Publizist und Politikberater. Er war u.a. Gründer des Osnabrücker Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), des Rats für Migration (RfM) und des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR).
Dies ist unbestreitbar eine Gefahr für die demokratische Einwanderungsgesellschaft und dort, wo immer wieder die religiös-kulturellen Freiheitsrechte von Einwanderern in Frage gestellt werden, ein klarer und strafbarer Verfassungsbruch. [...]
Wichtig ist in der Einwanderungsgesellschaft nicht nur, wogegen man sich wehren muss, sondern auch, wofür man gemeinsam einstehen will. Dieses schon mehrfach erwähnte solidarische ‚Wir‘, das das tragende wechselseitige Grundvertrauen in der demokratischen Einwanderungsgesellschaft sichert, ist Extremisten auf allen Seiten ein Dorn im Auge; denn nichts ist für sie lähmender als Anerkennung durch Teilhabe und die gelebte Akzeptanz kultureller Vielfalt in sozialem Frieden.
Deshalb auch gibt es eine intentionale Symbiose zwischen fundamentalistischen Islamisten und fundamentalistischen Antiislamisten – im islamophagen Kampfjargon von Politically Incorrect also zwischen den Anhängern von ‚Dschihad‘ und ‚Counter-Dschihad‘. Gemeinsam ist ihnen die Verachtung der vermeintlich aus Schwäche geborenen angeblich ‚multikulturalistischen‘ demokratischen Einwanderungsgesellschaft und das Interesse an deren Destruktion.
Nötig ist […] eine klare und mutige Selbstbeschreibung von Einwanderungsgesellschaft und Einwanderungsland, heute selbstverständlich auch unter Beteiligung der Einwandererbevölkerung: Zu den Schleifspuren der verhängnisvollen und durch politische Amnesie nicht aus der Geschichte zu schaffenden jahrzehntelangen politischen Erkenntnisverweigerung in Sachen Migration und Integration gehört, dass es bis heute nicht gelungen ist, ein für alle in diesem Land Lebenden – Deutsche, Einwanderer und Ausländer – verstehbares Selbstbild zu entwickeln.
Darin müssen die wirtschafts-, gesellschafts- und kulturpolitischen Dimensionen Migration und Integration ebenso ihren Ort finden wie die Menschen, die in dieser Einwanderungsgesellschaft leben und die zu einer beschreibbaren neuen gruppenübergreifenden Identität finden müssen, die im Alltag schon gelebt wird, aber noch keinen Namen hat.
Klaus J. Bade, "Kritik und Gewalt", Wochenschau-Verlag, Schwalbach/Ts., 2013, 400 Seiten
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.