Im Jahr 2015 wurden nach Angaben der Bundesregierung 1.800 Menschen in Abschiebehaft genommen – deutlicher weniger als in den Jahren zuvor. Vorausgegangen waren zwei wegweisende Urteile: Der Bundesgerichtshof legte fest, dass sogenannte Dublin-Fälle nicht mehr in Abschiebehaft genommen werden dürfen. Und der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied, dass Ausreisepflichtige nicht mehr in normalen Gefängnissen eingesperrt werden dürfen. Es brauche spezielle Einrichtungen für abgelehnte Asylbewerber, urteilten die Richter. Damit wuchs für die Bundesländer der Aufwand, Menschen in Abschiebehaft zu nehmen.
Seit 2015 nimmt die Zahl der Inhaftnahmen jedoch wieder stark zu – auf mehr als 4.000 im Jahr 2017. 2018 hat sich dieser Trend fortgesetzt, zeigen die Halbjahreszahlen. Mehrere Bundesländer haben angefangen, ihre Abschiebegefängnisse auszubauen: Die aktuell etwa 400 Haftplätze sollen fast verdoppelt werden. Auch wollen die Länder laut Medienberichten künftig trotz des EuGH-Urteils Ausreisepflichtige in normalen Haftanstalten unterbringen. Das Bundesinnenministerium plant außerdem eine Gesetzesänderung, um noch mehr Ausreisepflichtige zu inhaftieren – mit dem Ziel, mehr Abschiebungen durchzusetzen.
Mehr Inhaftierungen gleich mehr Abschiebungen?
Gibt es zwingend mehr Abschiebungen, wenn mehr Menschen in Abschiebehaft genommen werden? Die Daten der vergangenen Jahre zeigen: Nein. 2017 saßen zwar deutlich mehr Menschen in Abschiebehaft als im Vorjahr. Die Gesamtzahl der Abschiebungen ging aber um mehr als fünf Prozent zurück.
Die Zahl der Abschiebungen direkt aus der Haft stieg zwar, aber deutlich weniger als die der Inhaftierungen. Das zeigt eine Umfrage des MEDIENDIENSTES unter den Bundesländern, in denen die größten Abschiebehafteinrichtungen angesiedelt sind (Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz): In Bayern etwa hat sich die Zahl der Inhaftnahmen von 2016 auf 2017 mehr als verdoppelt, während die Zahl der Abschiebungen aus der Haft um lediglich 56 Prozent gestiegen ist (siehe Grafik und diese Übersichtstabelle).
Dass Abschiebungen oft nicht vollzogen werden, liegt in den meisten Fällen nicht daran, dass ausreisepflichtige Personen untertauchen – sagt die Rechtswissenschaftlerin Galina Cornelisse von der Freien Universität Amsterdam – sondern daran, dass sowohl sie als auch ihre Herkunftsstaaten nicht ausreichend bei der Beschaffung von Reisedokumenten kooperieren. "Wenn sie in Haft landen, ändert sich wenig an diesen Umständen“, so Cornelisse.
Ineffizient und unmenschlich
Eine Inhaftierung zum Zweck der Abschiebung muss gut begründet sein: Die EU-Rückführungsrichtlinie sieht vor, dass sie nur dann zulässig ist, wenn "Fluchtgefahr" besteht oder die ausreisepflichtige Person sich bereits der Abschiebung entzogen hat. Immer wieder stellen Gerichte fest, dass Menschen zu Unrecht in Abschiebehaft genommen wurden. Der Rechtsanwalt Peter Fahlbusch führt seit fast zwanzig Jahren eine Statistik anhand seiner eigenen Mandate: 1.675 Menschen in Abschiebehaft hat er vertreten; in 832 Fällen hat der Mandant Recht erhalten, sagt Fahlbusch im Gespräch mit dem MEDIENDIENST. Oft sei das Urteil aber erst gefallen, als die Mandanten bereits abgeschoben worden waren.
Abschiebehaft ist nicht besonders effektiv – und dazu noch teuer, wie eine vergleichende Studie des Europäischen Migrationsnetzwerks (EMN) 2014 feststellte. Viele europäische Staaten haben sich deshalb in den vergangenen Jahren von der Abschiebehaft verabschiedet und wenden zunehmend alternative Maßnahmen an: Ausreisepflichtige müssen sich etwa täglich bei der zuständigen Behörde melden oder werden intensiv betreut, um die Fluchtgefahr zu minimieren.
Die Debatten über die Abschiebehaft übersehen aber sehr oft das Wesentliche, sagt Michael Flynn. Er ist Geschäftsführer des „Global Detention Project“, das die Inhaftierung von irregulären Zuwanderern weltweit untersucht. „Haft belastet Menschen massiv – physisch und psychisch", so Flynn. Das kann fatale Folgen haben: In Deutschland haben zwischen 1993 und 2015 nach Angaben der „Antirassistischen Initiative Berlin“ 64 Menschen in der Abschiebehaft Selbstmord begangen.
Von Fabio Ghelli
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