Das Schicksal von abgelehnten Asylbewerbern dominiert die politische Debatte über Flüchtlingsmigration. Viele Stimmen sind in den vergangenen zwei Jahren laut geworden, die für mehr Abschiebungen plädieren. Die Vorstellung, abgelehnte Asylbewerber könnten ohne weiteres umgehend abgeschoben werden, ist weit verbreitet, aber falsch. Zum einen hat jeder Asylbewerber das Recht, gegen eine Ablehnung seines Asylantrags vor Gericht Einspruch zu erheben. Zum anderen können abgelehnte Asylsuchende nur dann abgeschoben werden, wenn sie Personaldokumente haben und sichergestellt ist, dass ihnen in ihrem Herkunftsland keine erhebliche Gefahr droht.
Nach einer oft zitierten Statistik lebten zum Stichtag 30. Juni 2017 fast 600.000 abgelehnte Asylbewerber in Deutschland. Sie alle abzuschieben ist aber rechtlich gar nicht möglich, denn 80 Prozent von ihnen haben einen befristeten oder unbefristeten Aufenthaltsstatus – etwa weil sie „nachhaltig integriert“ sind oder einen deutschen Staatsbürger geheiratet haben.
„Ausreisepflichtig“ sind nach Angaben der Bundesregierung derzeit etwa 230.000 Menschen in Deutschland (Stand: 30. September 2017). Entgegen der Erwartungen ist diese Zahl seit 2014 lediglich um 50 Prozent gestiegen (s. Grafik). Noch vor ungefähr einem Jahr hatte die Beratungsfirma McKinsey im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge geschätzt, dass bis Ende 2017 mindestens 485.000 Ausreisepflichtige in Deutschland leben würden. Davon ist man heute aber weit entfernt.
Hinzu kommt: Bei „Ausreisepflichtigen“ handelt es sich nicht nur um Flüchtlinge. Zu dieser Gruppe zählen zum Beispiel auch ausländische Studenten, Arbeitnehmer oder Touristen, deren Visum abgelaufen ist (sogenanntes overstay). Nur bei der Hälfte aller "Ausreisepflichtigen" handelt es sich um abgelehnte Asylbewerber.
70 Prozent der „Ausreisepflichtigen“ haben zudem eine „Duldung“. Das heißt: Sie wurden aufgefordert, das Land zu verlassen, können aber „aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen“ nicht abgeschoben werden. In mehr einem Drittel der Fälle liegt das daran, dass sie keine gültigen Reisedokumente haben. Es kann aber auch daran liegen, dass in ihrem Herkunftsland lebensbedrohliche Zustände herrschen, sie nicht reisefähig sind oder eine Ausbildung absolvieren.
Die Zahl der „unmittelbar Ausreisepflichtigen“ – also Personen, die gleich abgeschoben werden könnten – beläuft sich auf lediglich 67.000 Menschen (Stand: Oktober 2017). Etwa die Hälfte von ihnen sind abgelehnte Flüchtlinge.
Die meisten abgelehnten Asylbewerber verlassen das Land
Wie kann es aber sein, dass die Zahl der Menschen, die Deutschland verlassen müssen, so geringfügig angestiegen ist? Schließlich wurden zwischen 2015 und Oktober 2017 rund 476.000 Asylanträge abgelehnt. Hinzu kommen mehrere Zehntausend sogenannter Dublin-Fälle, die ebenfalls das Land verlassen müssten.
Ein möglicher Grund: Viele abgelehnte Asylbewerber und "Dublin-Fälle" haben gegen den Bescheid des BAMF geklagt. Bis zum Ende ihres Gerichtsverfahrens gelten sie nicht als „abgelehnt“ beziehungsweise nicht als „vollziehbar ausreisepflichtig“. Derzeit liegen in den Verwaltungsgerichten etwa 322.000 unerledigte Verfahren im Bereich Asyl (Stand: Juni 2017).
Eine "Ausreiseentscheidung" gilt, wenn alle Rechtsmittel gegen einen Ablehnungsbescheid ausgeschöpft sind und die Betroffenen zur Ausreise aufgefordert werden. Von so genannten "Ausreiseentscheidungen" waren in diesem Jahr laut Angaben der Bundesregierung 77.000 Menschen betroffen (Stand: Oktober 2017). Lediglich 35.000 dieser "Ausreiseentscheidungen", also weniger als die Hälfte, galten abgelehnten Asylbewerbern.
Rund 18.000 Menschen wurden zwischen Januar und Oktober 2017 abgeschoben. Weitere 24.500 Personen haben das Land mithilfe der Rückkehr-Programme des Bundes "freiwillig" verlassen, darunter etwa 18.000 abgelehnte Asylbewerber. Dabei muss man sagen: Nicht alle Teilnehmer der Rückkehr-Programme sind "ausreisepflichtig". Darüber hinaus gibt es eine unbekannte Zahl von Menschen, die innerhalb der Europäischen Union umgezogen sind und nicht erfasst wurden.
Doch selbst wenn man nur die Zahl der bekannten Ausreisen berücksichtigt, sieht man: Etwa 38.000 abgelehnte Asylbewerber haben Deutschland zwischen Januar und Oktober 2017 verlassen (inklusive Abschiebungen, "freiwillige Rückkehr" und Weiterreisen). Das heißt: Es sind in dieser Zeit sogar rund 3.000 mehr abgelehnte Asylbewerber ausgereist, als in dieser Zeit "ausreisepflichtig" geworden sind. Die Behauptung, es gebe ein "Vollzugsdefizit", was die Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber betrifft, erscheint deshalb nicht angemessen.
Von Fabio Ghelli
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