Den Bericht des Menschenrechts-Kommissars des Europarats Nils Muižnieks über die Lage der Menschenrechte in Deutschland finden Sie hier. Die Antwort der Bundesregierung auf den Bericht finden Sie hier.
MEDIENDIENST: Im Mai berichteten die Medien, dass Polizisten in Hannover Asylsuchende geschlagen und gedemütigt hätten. Auf Twitter haben Sie Ihre Empörung darüber geäußert. Sind deutsche Behörden anfällig für Rassismus?
Nils Muižnieks: Die Behörden sind veranlagt, das zu verneinen, aber an diesem konkreten Beispiel ist klar geworden, dass auch hier Rassismus existiert.
Wie könnte man dem entgegenwirken?
Ich glaube, dass die Institutionen in Deutschland zunächst die Existenz von institutionellem Rassismus anerkennen sollten. Nur dann können effektive Maßnahmen zu seiner Bekämpfung unternommen werden. Der Missbrauchsfall in Hannover zeigt deutlich, dass es nötig ist, eine von der Polizei unabhängige öffentliche Beschwerdestelle einzurichten, die Klagen im Fall von polizeilicher Gewalt und Diskriminierung entgegennehmen kann. Ein weiteres Schlüsselelement, um solche Missbrauchsfälle zu verhindern, wäre eine bessere Ausbildung der Polizeibeamten im Bereich der Menschenrechte. Am Fall von Hannover wurde klar, dass die Bundespolizei nicht immun gegen menschenverachtendes Verhalten ist.
Sie haben die Bundesrepublik besucht und werden demnächst einen Bericht über die Lage der Menschenrechte im Land veröffentlichen. Nichtregierungsorganisationen und auch der Antirassismus-Ausschuss der UN attestieren Deutschland verschiedene Menschenrechtsverletzungen, die sich aus rassistischer Diskriminierung ergeben würden. Welche Note würden Sie Deutschland geben?
Eine gute Note. Deutschland hat in den letzten Jahren viel getan, vor allem bei der Aufnahme von Asylsuchenden. Dabei muss man in erster Linie die drei Aufnahmeprogramme erwähnen, durch die seit 2013 fast 20.000 syrische Kriegsflüchtlinge nach Deutschland kommen konnten. Damit hat die Bundesrepublik die meisten Kontingentflüchtlinge in Europa aufgenommen. Außerdem sind in Deutschland allein im letzten Jahr mehr als 200.000 Asylanträge eingegangen. Angesichts dieser Umstände würde ich sagen, dass, bis auf einige Ausnahmen, die Aufnahme von Asylsuchenden ziemlich gut funktioniert. Ich habe während meines Besuchs mehrere Flüchtlingsunterkünfte besichtigt und fand sie in einem guten Zustand.
Dr. NILS MUIŽNIEKS ist ein lettischer Politik-wissenschaftler und war Integrations-minister in Lettland. Seit 2012 ist er Menschenrechts-Kommissar des Europarats. Er hat mehrere Bücher über die Lage der Menschenrechte in Europa veröffentlicht.
Gibt es dennoch Kritik?
Natürlich kann einiges verbessert werden. Angesichts der Tatsache, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in diesem Jahr mit mehr als 400.000 Asylanträgen rechnet, sollte man zügig darüber nachdenken, mehr Personal in den Aufnahmeeinrichtungen einzustellen. Außerdem sollte das Asylverfahren schneller und effizienter werden. Eine weitere wichtige Baustelle sind Sprachkurse für Asylsuchende, denn Sprachkenntnisse sind ein wichtiger Bestandteil des Integrationsprozesses. Des Weiteren sollten die Bundesländer den Zugang der Asylsuchenden zum Gesundheitssystem vereinfachen.
Während Ihres Besuchs haben Sie einige Befürchtungen bezüglich der wachsenden Anzahl von Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte geäußert. Wie soll die Bundesregierung diese Situation Ihrer Meinung nach bewältigen?
Politiker und Meinungsmacher müssen sich an den Teil der Bevölkerung wenden, der Angst vor Migranten hat und dieser Angst mit dem Prinzip entgegentreten, dass Deutschland und Europa auf Toleranz und Solidarität gebaut sind. Dazu muss man sagen: Die deutschen Behörden haben auf alle rassistischen Vorfälle schnell und angemessen reagiert. Um Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu bekämpfen, bedarf es allerdings einer aktiven Auseinandersetzung mit dem Problem, die über die Reaktion auf Einzelfälle hinausgeht.
Wie sollte sich die EU auf die voraussichtlich steigende Zahl von Asylsuchenden vorbereiten?
Zunächst sollte ein effektiver europäischer Such- und Rettungsmechanismus eingesetzt werden. Zweitens: alle EU-Länder sollten sich gemeinsam um die Anträge sowie die Unterbringung von Asylsuchenden kümmern. Die Dublin-Verordnung sollte abgeschafft und durch eine neue Regelung ersetzt werden, die der aktuellen Situation entspricht. Drittens: Die EU sollte sich aktiver dafür einsetzen, dass Asylsuchende legale Einreisemöglichkeiten finden. Dafür sollten die Bedingungen zur Vergabe eines humanitären Visums sowie für die Zusammenführung von Familien erleichtert werden. Viertens: die EU sollte sich aktiver für den Erhalt der Menschenrechte in den Herkunftsländern der Migranten einsetzen. Dafür reicht es jedoch nicht, dort viel Geld zu investieren. Es muss vor allem geprüft werden, dass diese Investitionen tatsächlich zu einem Fortschritt der Menschenrechte führen.
Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die Migrationsagenda der Europäischen Union?
Ich glaube, es wurde schon wieder eine Möglichkeit verpasst, ein für alle Mal die EU-Migrationspolitik gründlich umzugestalten. Es wäre ein Gebot der Menschlichkeit, in erster Linie Menschenleben zu retten. Stattdessen hat die EU beschlossen, den Mittelmeerraum noch stärker zu militarisieren. Das bietet nur eine Teillösung für ein viel komplexeres Problem. Vor allem hat mich aber enttäuscht, dass es weiterhin eine tiefe Spaltung zwischen nord- und südeuropäischen Ländern gibt und dass die südlichen Länder weiterhin selbstständig für die Aufnahme der Mittelmeer-Flüchtlinge sorgen müssen.
Interview: Fabio Ghelli
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