Mal wieder – nicht das erste Mal – gerät alles durcheinander: steigende Asylbewerberzahlen werden mit Syrienflüchtlingen, denen wir grundsätzlich helfen wollen, mit der EU-Freizügigkeit für Bulgaren und Rumänen sowie dem Phänomen der sogenannten Armutszuwanderung zu einem Cocktail gemixt, der für die politische Kultur hierzulande toxisch wirken kann, zumindest aber ungenießbar ist.
Rational betrachtet ist uns bewusst, dass wir ein gewisses Maß an Zuwanderung brauchen. Aber das ändert nichts an den diffusen Ängsten, die Menschen haben, wenn es um dieses Thema geht. Bei der zunächst nachvollziehbaren Sorge, dass Zuwanderung unser Sozialsystem in Deutschland bedrohen kann, muss klargestellt werden: Einen nennenswerten Zuzug in die Sozialsysteme in Deutschland gibt es bislang nicht. Wer das behauptet, bleibt die Belege schuldig.
Zur aktuellen Debatte um Einwanderer aus Rumänien und Bulgarien können wir festhalten: Im Vergleich zu anderen EU-Ländern, wie etwa Italien, Spanien und Großbritannien, kommen zu uns nur unterdurchschnittlich viele, und die meisten von ihnen sind Studierende oder arbeiten als Saisonarbeiter und Fachkräfte überall dort, wo wir sie dringend brauchen. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass Deutschland von der Freizügigkeit in Europa stark profitiert. Glaubt man den Recherchen von Journalisten vor Ort, müssen wir in diesem Zusammenhang zwar auch über Betrug reden. Allerdings eher von Seiten mancher Arbeitgeber und Vermieter in Deutschland, die sich nicht an rechtliche Standards halten.
Probleme müssen gemeinsam bewältigt werden
Trotzdem haben wir natürlich keine heile Welt. Das Phänomen der sogenannten Armutszuwanderung, das sich in einigen wenigen Städten in Deutschland konzentriert, ist dort ein handfestes Problem und bedarf der gemeinschaftlichen Bearbeitung durch Kommunen, Länder und Bund.
Herausforderungen gibt es vor allem dort, wo sich Menschen aus prekären Verhältnissen ballen – und zwar völlig egal, aus welchem EU-Staat sie kommen und welcher Ethnie sie angehören. Aggressives Betteln, Kleinkriminalität, Zwangsprostitution – dies wegzuleugnen, wäre Unsinn. Wo das besonders stark auftritt, brauchen die Städte Hilfe. Was den Städten allerdings keineswegs hilft, sind Skandalisierungen oder apokalyptische Visionen.
Diese Menschen verursachen ohne Zweifel Integrationsprobleme, auch ordnungs- und sicherheitsrechtliche, aber auch sie sind keineswegs zwangsläufig „Sozialleistungserschleicher“ – viele von ihnen erhalten keine Sozialleistungen. Das deutsche Sozialrecht ist nämlich durchaus wehrhaft gegen potenziellen Missbrauch ausgestaltet. Im Moment liegen einige solcher Fälle als Vorlagebeschluss des Bundessozialgerichts beim Europäischen Gerichtshof. Wir werden sehen, wie diese Prozesse ausgehen.
Einschränkung der Freizügigkeit wäre sinnlos und falsch
Von einer Sache bin ich allerdings überzeugt: Einschränkungen der europäischen Freizügigkeit sind sinnlos und falsch. Das Hochziehen von Zäunen hat keinen Sinn und wäre auf europäischer Ebene ein trauriger Rückschritt. Die Städte in Deutschland schätzen die Freizügigkeit. Die Entwicklung der europäischen Stadt ist, allein schon historisch betrachtet, ohne Wanderungsbewegungen gar nicht denkbar.
Meine Heimat – Nürnberg – hat in Zeiten der industriellen Revolution, wie viele andere Städte auch, ihre Einwohnerzahlen vervielfacht. Als 1835 die erste deutsche Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth fuhr, zählten wir 35.000 Einwohnerinnen und Einwohner, ein Jahrhundert später mehr als zwölfmal so viele. Das war – bei allem Lokalstolz – natürlich nicht das Ergebnis fränkischer Fruchtbarkeit, sondern Nürnberg ist, wie alle anderen deutschen Städte auch, ein Produkt großvolumiger Wanderungsbewegungen.
Wir sind ein Zuwanderungsland ohne redliche Zuwanderungsdebatte. Und genau dies wird an der Diskussion um die sogenannte Armutszuwanderung noch einmal deutlich. Wie gerne würden wir auch unter den Regeln der Freizügigkeit in der EU die Zuwanderer in „willkommene“ und „falsche“ aufteilen können. Das geht aber nicht und entspricht auch nicht der allgemeinen Lebenserfahrung: Jeder von uns kann, so das Schicksal es will, in seinem Leben mal vom Sozialproduktproduzenten zum Sozialproduktkonsumenten, also Transferempfänger werden.
Alle Instrumente der Integration mobilisieren
Doch zurück zum Thema „Armutszuwanderung“: In den sogenannten „Problemhäusern“ von Duisburg oder Neukölln ballen sich Menschengruppen, die schon in ihrer Heimat ausgegrenzt, oft unterdrückt und prekarisiert waren. Sie bringen diese Problemlage mit. Hier sind alle Dimensionen europäischer Politik gefragt. Europäischer Politik deshalb, weil die Kohäsion, also die Angleichung der Lebensverhältnisse, in der EU hier offenbar nicht gut funktioniert hat.
Ich unterstelle, dass niemand gerne seine Heimat verlässt. Also ist das erste Mittel der Wahl, diese Heimat auch so zu gestalten, dass Migrationsbewegungen erst gar nicht ausgelöst werden. Das ist Aufgabe der Herkunftsländer, aber auch der EU und in ihr der Bundesrepublik Deutschland.
Hierbei müssen wir alle Instrumente der sprachlichen, sozialen und kulturellen Integration mobilisieren und fokussieren. Genau dabei brauchen die Städte Hilfe, zum Beispiel durch Zugänge zu Förderprogrammen des Europäischen Sozialfonds, durch die Möglichkeit, im Rahmen der Städtebauförderung stärker in den Problemquartieren zu agieren, aber auch dadurch, dass betrügerischer Missbrauch durch Ausbeutung oder Scheinselbständigkeit präziser bekämpft und kontrolliert werden kann.
Besondere Verantwortung gegenüber Roma
In einem Interview habe ich neulich den sorgfältigen Umgang mit der Sprache bei der Problembeschreibung gefordert und dabei auch auf eine „historische Schuld“ Deutschlands an den Roma hingewiesen. Die „Fanpost“ dazu war ein eruptiver Ausbruch von Antiziganismus. Ich nutze gerne die Gelegenheit zur Differenzierung: „Historische Schuld“ ist genau im Sinne der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985 gemeint – nämlich keine individuelle, auf Menschen bezogene Schuld, die es abzutragen gilt, sondern eine Chiffre für eine besondere politische Verantwortung, die die Bundesrepublik Deutschland trägt.
Das Mahnmal von Dani Karavan für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin ist das eine – der Umgang mit den Lebenden das andere. Und das undifferenzierte Gleichsetzen von „Problemhaus“ und Roma das Dritte.
Eine gesamtgesellschaftliche Zuwanderungsdebatte verlangt von uns sprachlichen Anstand in der politischen Debatte, die präzise Auswertung des empirischen Befunds, das Benennen von Problemen, dort, wo es sie gibt, aber ohne platte Parolen, und am Ende die gemeinsame Erkenntnis, dass wir ein Zuwanderungsland sind und es eigentlich schon immer waren.
Ist das zu viel verlangt?
Dr. Ulrich Maly (SPD) ist seit 2002 Oberbürgermeister der Stadt Nürnberg. Seit 2013 ist er Präsident des Deutschen Städtetags und seit 2011 Vorsitzender des Bayerischen Städtetags. Maly promovierte 1990 zu „Wirtschaft und Umwelt in der Stadtentwicklungspolitik". Als Vertreter der Kommunen war er Mitglied der Deutschen Islam-Konferenz (DIK).
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