In diesen Tagen ist erneut von einer "Migrationswelle" der "Armutwanderer" die Rede: Menschen, die von der Freizügigkeit in der Europäischen Union Gebrauch machen – aber nicht, um in Deutschland zu arbeiten, sondern um Sozialleistungen zu beziehen. Für die Diskussion um den sogenannten "Sozialtourismus" gibt es gleich zwei Auslöser:
- Zum Einen sorgte ein Gerichtsurteil vom Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Ende November für Aufsehen: Demnach dürfe Deutschland EU-Bürger nicht grundlos Hartz IV verweigern, wenn ein Antragsteller hier arbeitslos ist und nach einem Job sucht. Das Gericht begründet seine Entscheidung mit dem Recht auf Gleichbehandlung in der EU.
- Zum Anderen fällt zum 1. Januar 2014 die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für EU-Bürger aus Rumänien und Bulgarien. In wenigen Wochen erhalten auch sie die vollen Freizügigkeitsrechte. Wir stark sich das auf die Zuwandererzahlen auswirkt, bleibt abzuwarten: Bereits jetzt konnten Saisonarbeiter, Studenten, Auszubildende und Selbstständige einwandern, ebenso wie Touristen.
Als Experte, der vor einer Einwanderung in die Sozialsysteme warnt, wird besonders oft Hans-Werner Sinn zitiert, ein Ökonom vom wirtschaftsliberalen Forschungsverbund CESifo. Sinn warnt seit Jahren vor der Gefahr einer "Erosion der westeuropäischen Sozialstaaten" durch die EU-Osterweiterung. Bereits 2005 veröffentlichte er unter dem Titel "Ist Deutschland noch zu retten?" einen Artikel dazu.
"Arbeitsmigration" statt "Armutsmigration"
Seiner Warnung vor einer Migrationswelle in die Sozialsysteme widersprechen zahlreiche Studien: Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat 2013 einen Kurzbericht veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass Deutschland beispielsweise von der bereits stattfindenden Migration aus Rumänien und Bulgarien profitiert. Nicht nur durch ihre Beiträge in die Rentenkasse, sondern auch durch die Deckung eines dringenden Fachkräftebedarfs tragen europäische Binnenwanderer zur Wirtschaftskraft Deutschlands bei.
Auch eine Studie, die im Oktober 2013 von der Europäischen Kommission veröffentlicht wurde, sollte beruhigen: Demnach sei keine überdurchschnittliche Belastung der Sozialkassen durch Einwanderer aus anderen EU-Staaten nachweisbar – auch nicht durch Einwanderer aus ärmeren Ländern. Die große Mehrheit der Binnenmigranten verlasse ihre Heimat auf der Suche nach Arbeit. "Der sogenannte Sozialtourismus ist weder weit verbreitet noch systematisch erkennbar", sagte EU-Kommissar László Andor bei der Präsentation der Studie.
Einwanderung in die Sozialsysteme?
"Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger aus Bulgarien und Rumänien steigt", vermeldete dpa am 3. Dezember mit Bezug auf Medienberichte und Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Ende August bezogen demnach 37.862 Menschen diese Leistung, das sei eine Verdoppelung seit 2011. Zwar ist die Zahl signifikant gestiegen. Ihr Bedrohungspotenzial für das Sozialsystem relativiert sich jedoch, wenn man sie ins ein anderes Verhältnis setzt: Bei insgesamt 6,16 Millionen Leistungsempfängern, beträgt der Anteil bulgarischer und rumänischer SGB-II-Leistungsbezieher an allen Leistungsbeziehern 0,6 Prozent.
Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) legte 2013 ein Jahresgutachten zur EU-Binnenmigration vor und bezeichnet die Freizügigkeit als Erfolgsmodell. In der Studie geht der SVR auch der Frage nach, ob eine Einwanderung in die Sozialsysteme festzustellen ist. Diese Sorge habe sich bislang als unberechtigt erwiesen. So gingen 72,1 Prozent der Bulgaren und Rumänen, die nach 2007 nach Deutschland zugezogen sind und zwischen 25 und 44 Jahre alt sind, einer Erwerbstätigkeit nach. Das Ausmaß des Sozialhilfebezugs von EU-Staatsangehörigen in Deutschland werde in der öffentlichen und politischen Diskussion dagegen regelmäßig überschätzt.
Wie viel Antiziganismus ist im Spiel?
Oft wird der Begriff "Armutswanderer" als Synonym für Roma verwendet. Die vermeintliche Sorge vor mehr Armutswanderern entspricht dabei auch der Ablehnung von Roma aus Osteuropa, die nach Deutschland kommen und sich hier in prekären Lebensverhältnissen niederlassen könnten. In einem Gutachten wies der Antiziganismusforscher Markus End bereits auf eine weit verbreitete diskriminierende und stereotype Darstellung von Roma hin, bei der Armut eine wesentliche Rolle spielt.
Auch Kommunen geben Entwarnung
Nachdem der Deutsche Städtetag im Februar eine Überlastung der Kommunen durch die steigende Zahl von armen Einwanderern aus Osteuropa mitteilte, drückt sich der neue Städtetagspräsident Ulrich Maly vorsichtiger aus. Im Interview mit Deutschlandradio Kultur warb er nachdrücklich für einen seriösen Umgang mit dem Thema „Armutseinwanderung“. Das beginne bei der Einschätzung der Dimensionen des Problems. Gleichwohl stünden die Kommunen vor Schwierigkeiten, bei denen sie unterstützt werden müssen. Eine Einschränkung der Freizügigkeit jedoch, wie sie von einigen Unionspolitikern bisweilen gefordert wird, sei keine Alternative.
Von Ferda Ataman, Lea Hoffmann, Sabine Netz
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