Die Arbeitnehmerfreizügigkeit bietet EU-Bürgern die Freiheit, sich in jedem EU-Land ihrer Wahl niederzulassen und dort zu arbeiten. Zudem verbietet sie, dass EU-Bürger in einem anderen EU-Land diskriminiert werden, sie stellt sie Einheimischen rechtlich weitgehend gleich. Vor nunmehr 50 Jahren wurde die europäische Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeführt. Die damals sechs Regierungen der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ verfolgten damit das Ziel, die wirtschaftliche Dynamik des gemeinsamen Binnenmarktes zu stärken und den sozialen Zusammenhalt zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern.
Der Plan ist aufgegangen: Die Mobilität innerhalb der EU hat zugenommen, viele Länder haben davon profitiert. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine Erfolgsgeschichte, und sie hat die Bevölkerungsstruktur vieler Länder stark verändert. Denn inzwischen leben etwa 3,8 Prozent aller erwerbsfähigen EU-Bürger in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen und aus dem sie ursprünglich stammen. Drei Viertel der EU-Binnenmigranten sind erwerbstätig. Das liegt über dem Durchschnitt in der ganzen EU: Hier liegt die Erwerbstätigenquote bei rund 72 Prozent.
Was die Mobilität ihrer Staatsbürger betrifft, unterscheiden sich die einzelnen Mitgliedstaaten der EU sehr stark. So lebten rund 20 Prozent der erwerbsfähigen Rumänen und etwa 14 Prozent der erwerbsfähigen Portugiesen im Jahr 2017 in einem anderen Land der EU. Aus Deutschland ist dagegen lediglich ein Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung in ein anderes EU-Land gezogen.
Dr. NORBERT CYRUS ist akademischer Mitarbeiter am Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Er forscht zur Verwaltung von Migration und den Dynamiken von Arbeitsmigration.
Als Zielländer liegen Deutschland und Großbritannien hingegen an der Spitze. Etwa die Hälfte aller EU-Bürger, die in ein anderes Land innerhalb der EU gezogen sind, verteilen sich auf diese beiden Länder: 2,9 Millionen Bürger aus anderen EU-Ländern leben heute in Deutschland, 2,3 Millionen in Großbritannien. In Luxemburg sind es zwar deutlich weniger. EU-Migranten machen dort aber 43,6 Prozent – und damit fast die Hälfte – der Gesamtbevölkerung aus.
Wie ist die Lage in Deutschland?
Deutschland hat von der Arbeitnehmerfreizügigkeit profitiert. EU-Bürger haben in den letzten Jahren deutlich zum Wirtschaftswachstum beigetragen, wie eine kürzlich veröffentlichte Simulation zeigt. Gleichzeitig ist die Quote der EU-Bürger, die in Deutschland Sozialleistungen erhalten gestiegen: von 9,2 Prozent im Jahr 2007 auf 12,3 Prozent im Jahr 2015.
Dieser Anstieg ist auch darauf zurückzuführen, dass mehr EU-Bürger Sozialleistungen in Anspruch nehmen, um eine geringfügige Beschäftigung zu ergänzen („Aufstockung“). Ursprünglich wurden diese Leistungen eingeführt, um Langzeitarbeitslosen einen Einstieg in den regulären Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Inzwischen sind zunehmend Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, auf die Leistungen angewiesen, weil ihr Lohn nicht zum Leben reicht. Damit subventioniert der Staat den Niedriglohnbereich.
Arbeitgeber greifen für prekäre Jobs zunehmend auf ausländische Staatsbürger zurück, darunter auf Flüchtlinge und EU-Bürger. Während die Zahl der „Aufstocker“ über die Jahre hinweg etwa gleich geblieben ist, hat der Anteil der EU-Bürger und anderer Ausländer unter ihnen kontinuierlich zugenommen. Die Zahl aufstockender EU-Bürger ist von 50.000 im Jahr 2007 auf 120.000 im Jahr 2015 angestiegen. Unter EU-Bürgern aus Osteuropa hat sich der Anteil der „Aufstocker“ von 2,3 auf 4,3 Prozent fast verdoppelt. Bürger dieser Nationalitäten sind dem Vorwurf, sie würden in die deutschen Sozialsysteme einwandern, im besonderen Maße ausgesetzt. Ein erheblicher Anteil von ihnen geht aber einer regulären Beschäftigung nach - und ist trotzdem auf ergänzende Leistungen angewiesen.
Warum es in Dänemark besser läuft
Die Förderung des Niedriglohnsektors durch staatliche Zuschüsse ist auch deshalb fragwürdig, weil sie es skrupellosen Geschäftemachern ermöglicht, Menschen aus anderen EU-Ländern systematisch auszubeuten. In einem parlamentarischen Untersuchungsbericht der Bürgerschaft Bremen lässt sich nachlesen, wie solche Geschäftemacher bulgarische Staatsbürger in Schrottimmobilien zu Wuchermieten einquartierten, ihnen falsche Arbeitsverträge ausstellten und für sie aufstockende Leistungen beantragten, um dafür dann horrende Gebühren einzubehalten. Die zuständigen Behörden reagierten trotz mehrfacher Warnhinweise in diesem Fall erst mit Verzögerung. Das sind zwar nur drastische Einzelfälle. Sie haben aber – nicht zuletzt aufgrund der Berichterstattung darüber – einen nachhaltig negativen Einfluss darauf, wie die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.
Wie es besser geht, zeigt das Beispiel Dänemark. So wie nach Deutschland, sind seit 2007 viele Menschen aus den neuen osteuropäischen EU-Mitgliedsländern nach Dänemark gezogen. Eine vergleichende Studie des Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung zeigt aber, dass der Anteil der EU-Bürger, die in Dänemark leben und Sozialhilfe beziehen, zwischen 2007 und 2015 von 2,7 auf 1,9 Prozent gesunken ist. Der wichtigste Grund dafür: Im Unterschied zu Deutschland wird der Niedriglohnsektor in Dänemark – dank starker Gewerkschaften und einem funktionierenden Tarifsystem – nicht durch staatliche Leistungen zur „Aufstockung“ gefördert. Praktisch alle zugezogenen EU-Bürger können in Dänemark von ihrer Arbeit leben.
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