MEDIENDIENST: Herr Brücker, warum ist die Zahl der Kindergeld-Überweisungen ins EU-Ausland so stark angestiegen?
Herbert Brücker: Dass mehr Kindergeld ins Ausland geht, liegt unter anderem daran, dass viel mehr EU-Ausländer in Deutschland leben, arbeiten und Steuern zahlen als noch vor ein paar Jahren. Bei manchen von ihnen leben die Kinder im Ausland. Dass die Kindergeld-Überweisungen auch im Verhältnis zur Entwicklung der Migrationsbevölkerung zugenommen haben, ist ebenfalls nicht überraschend. Denn das ist eine typische Migrationsentwicklung: am Anfang kommen die Alleinstehenden und dann erst die Familienväter oder -mütter. Die meisten kommen mit ihren Familien, manche lassen aber auch ihre Angehörigen zu Hause zurück.
Wer ist in Deutschland berechtigt, Kindergeld für im Ausland lebende Kinder zu beziehen?
Kindergeld ist eine Leistung, die man erhält, wenn man in Deutschland lebt. Systematisch ist das vergleichbar mit den Freibeiträgen für Kinder von Steuerzahlern. Dass wir überhaupt wissen, dass Kindergeld ins Ausland geht, liegt daran, dass die Behörden den Wohnort des Kindes erfassen. Um Kindergeld zu beantragen muss man ja erst mal nachweisen, dass es das Kind gibt, und wo es lebt und registriert ist.
Wer nutzt das Kindergeld für Kinder, die im Ausland leben? Saisonarbeiter?
Die meisten Empfänger sind Staatsbürger aus der EU. Unter den Staatsbürgern aus den EU-Mitgliedstaaten gibt es gar nicht mehr so viele Saisonarbeiter, das kann den Anstieg nicht erklären. Die größte Gruppe stellen nach wie vor die Polen, gefolgt von den Rumänen. Gerade unter den Polen gibt es viele Wochenpendler, also Personen, die während der Woche in Deutschland arbeiten und deren Familien zu Hause leben. Das hat mit der geographischen Nähe zu tun. Schließlich gibt es noch eine Gruppe von deutschen Staatsbürgern, die Kindergeld für ihre im Ausland lebenden Kinder beziehen.
Prof. Dr. Herbert Brücker ist Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) und leitet den Forschungsbereich Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). (Foto: Murr)
Es gibt das Angstbild vom EU-Bürger, der in Deutschland von Sozialleistungen lebt und Kindergeld für seine Kinder bezieht, die in der Heimat leben. Ist das möglich?
Kindergeld wird grundsätzlich auf die Hartz-IV-Sätze angerechnet, sofern es sich um eine Bedarfsgemeinschaft handelt. Insofern sind die Anreize, hier von Sozialleistungen zu leben und Kindergeld für Kinder im Ausland zu beziehen, gering. Aber Missbrauch ist natürlich möglich, das dürfte immer nur eine Minderheit der Fälle betreffen.
Warum erhalten Ausländer, die in Deutschland leben und arbeiten, Kindergeld in voller Höhe für ihre Kinder?
Die Höhe des Kindergelds richtet sich nach dem Wohnort der Eltern. Das ist auch der Ort, an dem die Steuern bezahlt werden. Aus einer steuerrechtlichen Sichtweise ist es darum logisch, dass das Kindergeld in gleicher Höhe ausbezahlt wird, egal wo das Kind lebt. Beim Ehegattensplitting unterscheiden wir auch nicht, ob der Partner im In- oder Ausland lebt. Man kann aber auch die Sichtweise annehmen, dass es sich bei dem Kindergeld um eine Sozialleistung handelt. Dann würde es sich anbieten, sich an dem Bedarf zu orientieren, entsprechend würde man das Kindergeld an die Höhe der Lebenshaltungskosten in dem Land anpassen, in dem das Kind lebt.
Ist das sinnvoll?
Ökonomisch haben beide Argumente ihre Berechtigung. Das eine Argument zielt auf Steuergerechtigkeit. Ein Steuerzahler aus einem anderen EU-Staat sollte nicht gegenüber dem deutschen Steuerzahler benachteiligt werden. Aber man könnte auch argumentieren, dass es nicht sinnvoll ist, Anreize dafür zu schaffen, dass Ausländer, die hier arbeiten, ihre Kinder zu Hause bei den Großeltern lassen.
Was würde passieren, wenn man das Kindergeld für EU-Bürger aus anderen Staaten kürzt und an die Lebenshaltungskosten im Heimatland anpasst?
Bei manchen würde das Nettoeinkommen dann sinken. Für einige könnte das einen Anreiz bieten, ihre Kinder nach Deutschland zu holen. Bei anderen könnte es den Anreiz verringern, überhaupt nach Deutschland zu kommen. Aber wir wissen nicht, wie groß diese Effekte wären.
Was hätte es für Auswirkungen, wenn sich die betroffenen EU-Bürger dafür entscheiden würden, ihre Kinder deshalb zu sich nach Deutschland zu holen?
Sollten sich viele dafür entscheiden, ihre Kinder lieber nach Deutschland zu holen, statt sie im Heimatland zurück zu lassen, könnte das am Ende für den deutschen Staat deutlich teurer werden, als das volle Kindergeld in diese Länder zu überweisen. Denn Kinder, die hier leben, verursachen Kosten für Kinderbetreuung, Bildung und Ausbildung, die sonst von den Herkunftsländern getragen werden. Auf der anderen Seite sparen wir die direkten Kosten des Kindergelds. Darüber, welcher Effekt größer ausfällt, kann nur spekuliert werden.
Glauben Sie, dass das Kindergeld für EU-Bürger aus anderen Staaten, die in Deutschland leben, aufgrund dieser Debatten gekürzt wird? Die neue Regierung in Österreich will das ja auch.
Das wird letztendlich auf europäischer Ebene entschieden. Gegenwärtig ist die EU-Kommission der Auffassung, dass das Kindergeld nicht an die Lebenshaltungskosten in den Herkunftsländern angepasst werden sollte. Das entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Aber dies kann sich natürlich ändern, die deutsche Regierung ist auf der europäischen Ebene ja nicht ohne Einfluss. Es ist deshalb denkbar, dass sich die rechtliche Bewertung ändert. Das wird nicht über Nacht geschehen, ist aber mittel- und langfristig durchaus vorstellbar. Natürlich hängt dies auch von den innenpolitischen Debatten ab, die in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten geführt werden.
Interview: Daniel Bax
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