Anfang dieses Jahres ist in allen deutschen Parteien eine Diskussion darüber entbrannt, ob die Bundesrepublik ein neues Einwanderungsgesetz braucht und, wenn ja, wie dies aussehen soll. Aus dieser Diskussion sind mehrere Positionspapiere und Gesetzesanträge entstanden, die der Mediendienst in einem Informationspapier zusammengefasst hat. Die Notlage in den Bundesländern, die sich im Laufe des Jahres durch die gestiegenen Flüchtlingszahlen verschärft hat, hat die Frage nach einer Neuregelung der Einwanderungspolitik allerdings in den Hintergrund gedrängt.
Zu Unrecht – sagt der Vize-Vorsitzende der CDU Armin Laschet im Interview mit Zeit Online. Denn gerade die Krise des Aufnahmesystems für Flüchtlinge zeige abermals, wie dringend Deutschland neue Regeln für legale Einwanderung braucht.
Eine der zentralen Fragen der Debatte war, ob und wie Deutschland Einwanderer mit guten Qualifikationen auswählen soll. Fast alle Parteien orientieren sich dabei an einem sogenannten „Punktesystem“, nach dem die Erfolgschancen eines Einwanderers aufgrund von Qualifikation, Alter und Sprachkenntnissen gemessen werden können.
Solche Punktesysteme werden in mehreren Ländern weltweit angewandt – in manchen Fällen schon seit Jahrzehnten. Die Friedrich Ebert Stiftung (FES) hat die Situation in fünf solcher Länder analysiert: Kanada, Australien, Neuseeland, Großbritannien und Österreich. Das Fazit der Autoren: Ein Punktesystem wäre in Deutschland durchaus denkbar. Die Präzedenzfälle anderer Länder zeigten jedoch: Ein derartiges System birgt mehrere Risiken – vor allem, wenn es nicht flexibel genug ist, um sich den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts anzupassen.
So mussten alle Verfahren, die in der Studie analysiert werden, im Laufe der Zeit stark überarbeitet werden. Inzwischen weisen sie mehrere Ähnlichkeiten auf: Alle Punktesysteme unterscheiden zwischen Einwanderer-Kategorien wie etwa Hoch- und Geringqualifizierten, Unternehmern und Studierenden. Auch findet derzeit in allen Ländern die erste Auswahl der Kandidaten bereits durch ein Online-Verfahren statt.
Doch es bestehen weiterhin gravierende Unterschiede: In einigen Ländern wie Großbritannien und Australien kann ein Einwanderer, der bereits über einen Arbeitsvertrag verfügt, in der Regel problemlos einreisen. Kanada und Neuseeland sind hingegen bereit, auch Menschen ohne Arbeitsvertrag anzunehmen. Um sich den Entwicklungen am Arbeitsmarkt anzupassen, haben die Länder unterschiedliche Methoden entwickelt: Kanada hat mehrere regionale Programme, in deren Rahmen Arbeitskräfte in "Mangelberufen" angeworben werden können. Andere Länder wie Neuseeland und Österreich lassen das Punktesystem regelmäßig von Wissenschaftlern und Vertretern der Arbeitgeberverbände überprüfen.
Experten skeptisch über das Punktesystem
Die FES-Studie zeigt: Trotz dieser Anpassungsmechanismen besteht in einem Einwanderungssystem, das Migranten nach ihren Erfolgschancen misst, immer das Risiko, Potential zu verschwenden. So kämpft Kanada bereits seit Jahren mit dem sogenannten „Brain waste“: Menschen, die trotz ihrer Qualifikation keine passende Arbeit finden und deshalb Berufen nachgehen müssen, für die sie überqualifiziert sind. In Neuseeland stauten sich bis 2003 Tausende Anträge für ein Arbeitsvisum an. Wenn die Antragsteller an der Reihe waren, waren ihre Qualifikationen oftmals nicht mehr gefragt. Das Problem wurde zum Großteil durch das neue Online-Verfahren gelöst.
Viele Experten sind deshalb skeptisch, wenn es um die Frage geht, ob Deutschland auch ein Punktesystem braucht. Ein derartiges System sei in Deutschland „schwer realisierbar“, sagt der Rechtswissenschaftler Thomas Groß. Bei einem Expertengespräch des MEDIENDIENSTES kritisierte der Europarecht-Experte kürzlich die Idee, eine Steuerung der Einwanderung könne durch eine Vorauswahl der Migranten erfolgen: „Bei Ländern mit offenen Grenzen wie Deutschland würde eine derartige Regelung nicht funktionieren.“
Auch für den stellvertretenden Leiter der Abteilung Arbeitsmarkt bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Alexander Wilhelm, braucht Deutschland mit Blick auf eine "bedarfsorientierte Fachkräftezuwanderung" nicht mehr, sondern weniger Hürden: Zwar wurden in den letzten zehn Jahren mehrere Gesetze verabschiedet, die den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt für Drittstaatsangehörige erleichtert haben, so Wilhelm. Es blieben jedoch mehrere Hürden bestehen: So sei die Anerkennung von Berufsabschlüssen nach wie vor "oft schwierig und langwierig". Auch bei der Arbeitsmarkt-Integration von Flüchtlingen mit Bleibeperspektive gebe es weiteren Hindernisse: Die meisten Unternehmer seien zwar bereit, Asylsuchenden mit Bleibeperspektive und Geduldeten eine Ausbildungsstelle anzubieten, tun das jedoch teilweise nicht, da der Aufenthalt für die Dauer der Ausbildung nicht gesichert ist.
Auch die Soziologin Kyoko Shinozaki plädierte beim Expertengespräch für den Abbau der bestehenden Hürden: "Obwohl Deutschland jahrzehntelang eine eher restriktive Einwanderungspolitik hatte, ist die Zahl der Zuzüge trotzdem deutlich gestiegen. Das heißt: Trotz jahrelanger Realitätsverweigerung ist Deutschland schon lange ein Einwanderungsland." Schon die Vorschläge der Süssmuth-Kommission seien nach Shinozakis Auffassung weiter gegangen als die heutige Debatte: "Es geht darum, den Einwanderinnen und Einwanderern die Möglichkeit zu verschaffen, in Deutschland ihr Potential zu entfalten und ihre beruflichen Perspektiven entsprechend ihrer Qualifikationen zu gestalten. Das gilt vor allem für Frauen, die in hochqualifizierten Sektoren bislang unterrepräsentiert sind und überwiegend im Niedriglohnsektor arbeiten."
Von Fabio Ghelli
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