Das politische Spektrum derjenigen, die sich derzeit in Deutschland für ein Einwanderungsgesetz mit einem Punktesystem nach kanadischem Vorbild stark machen, ist erstaunlich. „Wir fordern ein Einwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild“, schreibt etwa die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) in den Leitlinien ihres Programms. Das Gleiche fordern die "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" (Pegida) in ihrem „Positionspapier“. Aber auch Vertreter von FDP, SPD, Grünen und CDU sehen das „kanadische Modell“ als mögliche Grundlage für ein neues Einwanderungsgesetz.
Was ist aber dieses „kanadische Modell“? Um das zu verstehen, muss man sich zunächst Kanadas geographische und demographische Besonderheit bewusst machen: In Kanada leben etwa 35 Millionen Menschen – nicht einmal die Hälfte der deutschen Bevölkerung – auf einer Fläche, die zehnmal so groß ist wie die Bundesrepublik. Migranten waren in Kanada schon immer begehrt. Dem Environics Umfrageinstitut zufolge sagen rund 80 Prozent der Kanadier, Migration sei für das Land lebenswichtig.
Den Hauptgrund dafür sehen Politik- und Wirtschaftswissenschaftler jedoch nicht in den geographischen Besonderheiten des Landes, sondern in dessen effizientem Auslesesystem für Migranten. Seit 1967 gilt in Kanada ein Punktesystem, das Einwanderungswillige nach Ausbildung, Arbeitserfahrung, Sprachkenntnissen und Alter klassifiziert: Wer 67 von 100 Punkten bekommt, kann einwandern. Damit sorgt der Staat dafür, dass die meisten Einwanderer von vornherein gute Erfolgschancen haben. Nach dem Motto: Erfolgreiche Migranten lassen sich besser integrieren, was wiederum zu einer höheren Akzeptanz ihnen gegenüber führt.
Einwanderungssystem als offene Baustelle
Könnte das kanadische Modell also ein Vorbild für ein derzeit von so vielen Politikern gefordertes deutsches Einwanderungsgesetz sein? Das lässt sich so einfach nicht beantworten. Denn das kanadische System ist weniger ein „Modell“ als eine offene Baustelle.
Wiederholt musste die kanadische Regierung die Auswahlkriterien umkrempeln, um sie an die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts anzupassen. Der rasante Anstieg der Einwanderungszahlen aus Ostasien in den 80er Jahren führte zum Beispiel zu einer erhöhten Einwanderer-Konzentration im Niedriglohnsektor. Die Regierung reagierte darauf 2002 mit einer Reform des Punktesystems, die junge, hochqualifizierte Zuwanderer bevorzugte. Diese neue Ausrichtung führte jedoch zu einem Personalmangel in wenig qualifizierten Berufen wie zum Beispiel in der Bauindustrie. Daraufhin richtete die Regierung ein Programm für zeitweilige Beschäftigung ein, das sich zum Teil als Locksystem für Billiglöhner entpuppte und nun dringend reformiert werden muss.Quelle
Das Punktesystem hinkt dem Arbeitsmarkt hinterher
Für den Politikwissenschaftler Dietrich Thränhardt liegt das Problem vor allem darin, dass das kanadische Punktesystem mit den typischen Nachteilen der Planwirtschaft behaftet ist: „Je nachdem, wie sich der Markt entwickelt, suchen Unternehmer unterschiedliche Fachkräfte. Bis sich das System an die neuen Umstände angepasst hat, hat sich der Arbeitsmarkt erneut verändert und die Spezialisten, die ins Land geholt wurden, stehen vor verschlossenen Türen.“
Wenn sie weiterhin im Land bleiben wollen, sind viele hochqualifizierte Einwanderer also gezwungen, eine Arbeit anzunehmen, die ihrer Qualifikation bei weitem nicht entspricht. Wie Zeit Online kürzlich berichtete, sind der Taxi fahrende Akademiker aus Indien oder der Oberarzt aus Pakistan, der im Krankenhaus die Böden schrubbt, auch in kanadischen Städten zu finden. 2001 arbeitete mehr als ein Drittel der Einwanderer mit einem akademischen Abschluss in unqualifizierten Berufen. Diese Menschen verdienen (und produzieren) also viel weniger als sie eigentlich könnten.Quelle
Trotz verschiedener Reformen waren 2010 weiterhin mehr als zweimal so viele Neuzuwanderer im Niedriglohnsektor tätig als Einheimische. Auch sind viele Zuwanderer in Kanada nach wie vor arbeitslos. Die kanadische Beratungsfirma Miner & Miner hat kürzlich berechnet, dass es im Durchschnitt zehn Jahre dauert, bis ein Einwanderer die gleichen Berufschancen hat wie ein Einheimischer.
Ein Punktesystem ist also keine Garantie für eine "gewinnbringende" Migration. Sollte Deutschland ein derartiges System einführen, könnte das für den Arbeitsmarkt sogar Nachteile haben. Denn schon jetzt beobachtet man hierzulande eine zunehmende Verschwendung von qualifizierter Einwanderung – den sogenannten „brain waste“: Fast jeder vierte Migrant in Deutschland geht nach Angaben der OECD einem Beruf nach, für den er überqualifiziert ist.
Die Idee, ein Land ausschließlich für qualifizierte Menschen zu öffnen, reicht also nicht, um eine nachhaltige Migrationspolitik zu sichern. Wie der Wirtschaftswissenschaftler Holger Bonin vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung kürzlich schrieb, muss die Politik zunächst die Bedingungen schaffen, damit Einwanderer ihr Potential hierzulande nutzen können. Denn eine gute Arbeitsintegration führt zu höheren fiskalischen Erträgen und somit zu einem stärkeren Wirtschaftswachstum. "Durch Bildung und sozialen Aufstieg vitalisieren sich Nationen", bestätitgt Dieter Oberndörfer in einem Gastbeitrag für den MEDIENDIENST. Die Zukunftschance der neuen Einwanderungsgesellschaft Deutschlands besteht laut Oberndörfer darin, das in der Gesellschaft vorhandene "reiche Humankapital zu erschließen und zu entwickeln".
Von Fabio Ghelli
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