Vor einigen Wochen hat CDU-Generalsekretär Peter Tauber eine interessante Debatte angestoßen, in dem er forderte: Wir müssten Zuwanderung breiter diskutieren als bisher. Es greife zu kurz, wenn wir Migration nur unter Arbeitsmarkt-Gesichtspunkten betrachten. Um ein erfolgreiches Einwanderungsland zu sein, bräuchten wir ein Einwanderungsgesetz.
Wer die Debatte in der sogenannten Süssmuth-Kommission 2001 und zum Zuwanderungsgesetz 2005 kennt, dürfte überrascht aufgehorcht haben. Denn die Forderung ist nichts Geringeres als ein Paradigmenwechsel.
Vor etwas mehr als zehn Jahren hatte Taubers Partei im Bundesrat eine Regelung für Arbeitskräftezuwanderung durch ein Punktesystem verhindert, das damals von der rot-grünen Bundesregierung vorgeschlagen wurde. 2004 scheiterte Otto Schilys Zuwanderungsgesetz – ohnehin nur eine Dünnbier-Variante der Vorschläge der Süssmuth-Kommission. Seit den 90er Jahren wurde eine erbitterte Abwehrschlacht gegen „Masseneinwanderung“ geschlagen. Ihre ideologische Wurzel war die Angst vor Multikulturalismus, vor einem Verlust einer angeblich für alle Deutschen definierbaren kulturellen Identität.
Selbst das Zuwanderungsgesetz der Koalition aus SPD und Grünen, das am 1. Januar 2005 in Kraft trat, hieß in dieser Logik zunächst noch „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“. Sein Nachdruck lag auf der Integration bisheriger – trotz aller Widerstände doch erfolgter – Zuwanderung. Deren Eigendynamik und die nun verstärkt geförderte Integration hat Deutschland in ein Einwanderungsland verwandelt. Die Freizügigkeit in der EU und der wirtschaftliche Boom in Deutschland brachten zuletzt sogar eine nennenswerte Einwanderung mit sich.
Die politische und mediale Akzeptanz dieser Zuwanderung hat aber mit etwas anderem zu tun: dem sich abzeichnenden demographischen Wandel. Die Jahrgänge, die neu ins Erwerbsleben eintreten, fallen deutlich kleiner aus als die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge, die aus der Arbeitswelt ausscheiden. Damit verbreitete sich fast schlagartig die längst fällige Erkenntnis, dass Einwanderung für die Sicherung der wirtschaftlichen Dynamik und des Wohlstandes Deutschlands unverzichtbar ist.
In dieser Denke schrieb vor Kurzem Hans-Werner Sinn in seinem umstrittenen Beitrag über die ökonomischen Effekte der Migration: „Nun ist es zu spät. Es mangelt an Frauen in gebärfähigem Alter. An fortgesetzter Massenimmigration führt deshalb kein Weg vorbei“.
Sinns Thesen richten sich vor allem gegen den Sozialstaat
Sein Essay zeigte, dass die Argumentationsmuster gegen Einwanderung nach wie vor sogar in der „Akademia“ lebendig und verbreitet sind. Sinns These lautet letztlich: "Masseneinwanderung" ja – aber bitte nicht auf die derzeitige Weise! Schließlich bringe sie lediglich wenig qualifizierte Arbeitskräfte aus Südosteuropa und von außerhalb Europas. Diese Migranten brächten keinen Wohlstand, sondern schadeten ihm nur. Sie kämen primär, um von den Leistungen des üppigen deutschen Sozialsystems zu profitieren.
Prof. Dr. DIETER OBERNDÖRFER ist Vorstands-Vorsitzender des Arnold-Bergstraesser-Instituts in Freiburg, Ehrenmitglied der Deutschen Unesco-Kommission und des Rats für Migration. Er lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Universität Freiburg und beschäftigte sich intensiv mit den Themen Nationalismus, Europapolitik und Einwanderungsgesellschaft.
Auf den ersten Blick klingt es daher recht "progressiv", wenn Sinn, einige CDU-Vertreter und nun auch die SPD eine sozialverträgliche Auswahl der Migranten durch ein Einwanderungsgesetz fordern, mit sozialen und beruflichen Kriterien nach dem kanadischen Punktemodell. Bei genauem Hinsehen aber klinkt man sich damit lediglich in "veraltete" Migrationsdebatten ein.
Ausgehend von der Freizügigkeit in der EU und der geringen Attraktivität Deutschlands für höher qualifizierte Migranten würde ein solches Gesetz wohl kaum in der gewünschten Weise wirken. Denn die Entwicklung zeigt:
- Deutschland ist wenig attraktiv für hochqualifizierte Einwanderer. Unternehmer mit Startkapital und Hochqualifizierte aus Staaten außerhalb der EU erhalten schon seit 2012 durch die Blaue Karte EU die Möglichkeit eines sicheren Verbleibs. Dieser von der Öffentlichkeit kaum bemerkte Versuch war – wie schon zuvor die deutsche Green Card – wenig erfolgreich.
- Woher sollen die "Massen" der gewünschten hochqualifizierten Migranten eigentlich kommen? Der Wettstreit der Einwanderungsländer zeigt: Zusätzliche Potentiale können höchstens über einen weiteren Ausbau des "Brain Drains" aus Entwicklungsländern gefunden werden.
Die deutsche Einwanderungsstatistik dokumentiert außerdem, dass die Mehrheit der von Sinn abgewerteten Migranten qualifiziert ist und deshalb von der Wirtschaft gesucht wird. Das Bild einer massenhaften Einwanderung in die Sozialsysteme ist somit schief und unrichtig.
Sinns Bewertung der Leistungen von Migranten hat ihr eigentliches Unterfutter im Ressentiment gegen den Sozialstaat. Ein Minus eigener Leistungen im Verhältnis zu den Aufwendungen des Staates gäbe es nach seinen Bemessungskriterien schließlich auch für die meisten Einheimischen. Soziale Leistungen aber sind kein Schaden für die Nation. Vielmehr sind sie das Fundament des Zusammenhalts und der Leistungsfähigkeit freier Staaten. Von ihnen, dies wird von ihren Gegnern im Verteilungsstreit meist unterschlagen, profitiert der demokratische Staat – profitieren alle.
In Wirklichkeit geht es um die steigende Zahl von Flüchtlingen
Im Streit, ob Zuwanderung ein "Geschäft" sei, kann es hingegen kein unanfechtbares Ergebnis more geometrico geben, da die Kontrahenten bei ihren Kostenrechnungen von unterschiedlichen normativen Prämissen und schwierigen empirischen "Schätzungen" ausgehen. Was ist der Wert der verschiedenen Leistungen? Was sind die Kosten schrumpfenden Konsums und des Verfalls von Wohnungen, Straßen und kommunalen Einrichtungen bei fehlender Zuwanderung und noch schneller schrumpfender und alternder Bevölkerung? Wie können die Leistungen vergangener einheimischer Generationen berechnet werden? Versuche solcher Berechnungen verwandeln Wissenschaft in moderne Astrologie.
Dabei sollte nicht übersehen werden, dass der Wert der Menschen, der Ärmeren wie der Wohlhabenden, der weniger und höher Qualifizierten, der Einheimischen und der Migranten, für den Staat, die Gesellschaft und die Wirtschaft nicht allein monetär „gerechnet“ werden darf. Für ihren Wert gibt es noch viele andere Kriterien.
Dieser Hinweis macht auf die fundamentale Bedeutung des Bildungswesens und anderer sozialer Aufstiegsmöglichkeiten für alle Gesellschaften und hier gerade auch für Einwanderungsgesellschaften aufmerksam. Durch Bildung und sozialen Aufstieg vitalisieren sich Nationen. Das in ihnen enthaltene reiche Humankapital zu erschließen und zu entwickeln ist auch die Zukunftschance der neuen Einwanderungsgesellschaft Deutschlands. Dafür sind allerdings weit größere Anstrengungen als bisher notwendig.
Die derzeitige neuerliche Debatte über ein Einwanderungsgesetz und Kostenfaktoren verdunkelt und lenkt davon ab, worum es eigentlich geht: Die Massenmigration, von der Sinn spricht, ließe sich weniger polemisch auch als Flucht vor menschenunwürdiger Armut oder vor mörderischer politischer Verfolgung bewerten.
Der Bedarf an qualifizierten Fachkräften darf aber nicht gegen das Gebot ausgespielt werden, Flüchtlinge aus humanitären Gründen aufzunehmen. Das Gebot der Stunde ist nun die Humanisierung dieser Migration. Es wäre schön, wenn der politische Diskurs sich stärker darauf konzentrieren würde, statt auf eine Gesetzesvorlage nach dem kanadischen Punktemodell.
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