Die aktuelle Debatte über ein neues „Einwanderungsgesetz“ scheint sich mehr um Symbolpolitik zu drehen als um die eigentlichen Probleme des Einwanderungssystems. Ausgerechnet das kanadische Punktesystem, das die SPD in ihrem Positionspapier als „flexibel, sozialorientiert und sozialverträglich“ lobt, wird inzwischen auch in Kanada sehr kritisch betrachtet. Denn es ist mit den typischen Nachteilen der Planwirtschaft behaftet:
- Verzögerungen im Einwanderungsverfahren,
- Diskrepanz zwischen angeworbenen Arbeitskräften und Fachkräfte-Bedarf am Arbeitsmarkt,
- Verschwendung von Qualifikationen, wie etwa gut qualifizierten Einwanderern, die Taxi fahren.
Selbst das neue "Express Entry System", das die Einreise im Eiltempo ermöglichen soll, steht derzeit in der Kritik: Wie der kanadische Anwalt und Migrationsexperte Richard Kurland in einem Medienbericht erklärt, sei das System „wenig transparent und nicht zuverlässig“.
Dennoch scheint die Idee eines Punktesystems in der deutschen Politik immer mehr Befürworter zu finden, wahrscheinlich weil dabei das Bild einer berechenbaren, gut kontrollierbaren Zuwanderung entsteht. Verwunderlich ist aber vor allem, dass das Thema „qualifizierte Einwanderung“ in der Debatte eine so übermäßige Rolle spielt. Und das, obwohl Deutschland in puncto Fachkräfte eine relativ gute Gesetzgebung hat, die allerdings bislang wenig Wirkung zeigte.
In einer Studie aus dem Jahr 2013 wies die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) darauf hin, dass es in Deutschland keine besonderen Hürden für die Anwerbung von Arbeitskräften gibt. Dennoch bliebe der Zugang von ausländischen Fachkräften zum deutschen Arbeitsmarkt relativ gering. Dafür gäbe es der OECD zufolge mehrere Gründe: Zum einen würden deutsche Arbeitgeber oftmals auf fortgeschrittene Sprachkenntnisse bestehen, zum anderen würden die meisten von ihnen internationale Anwerbeprogramme als zu komplex und unzuverlässig sehen.
Tatsächlich hat die Bundesregierung im Jahr 2013 durch die „Verordnung zur Änderung des Ausländerbeschäftigungsrechts“ mehrere Hürden für den Zugang von Drittstaatsangehörigen zum deutschen Arbeitsmarkt abgebaut: Demnach können viele Drittstaatsangehörige ohne Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Das gilt unter anderem für
- Hochqualifizierte,
- Besitzer einer Blauen Karte EU
- und Ausländer mit einem anerkannten Hochschulabschluss.
- Auch können Drittstaatsangehörige ohne besondere Zulassung ein Praktikum oder sonstige Weiterbildungen in Deutschland absolvieren.
Dennoch blieb die Zahl der zugewanderten Fachkräfte in den letzten Jahren relativ niedrig: 2013 lag sie bei rund 24.000. Ein Grund dafür könnte die mangelnde Kommunikation sein: Viele Menschen im Ausland wissen nicht, dass es diese Möglichkeiten für sie gibt. Erst vor kurzem hat die Bundesregierung angefangen, aktiv ausländische Fachkräfte anzuwerben, unter anderem durch die Initiative „Make it in Germany“ und die Hotline „Arbeiten und Leben in Deutschland“.
Prof. Dr. DIETRICH THRÄNHARDT ist Politikwissen-schaftler und Mitglied im "Rat für Migration" (RfM). Er ist Herausgeber der "Studien zu Migration und Minderheiten" und lehrt an der Universität Münster Vergleichende Regierungslehre und Migrationsforschung.
Der Hauptgrund ist aber die Verfügbarkeit europäischer Arbeitskräfte angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in vielen EU-Ländern: ein Arbeitskräfte-Pool von 500 Millionen Menschen in der EU. Allein im Jahr 2013 ist die Zahl der in Deutschland lebenden EU-Migranten um knapp 300.000 gestiegen. Die wichtigsten Herkunftsländer waren Polen (71.600), Rumänien (49.500) und Italien (32.700).Quelle
Statt über zusätzliche Auswahl-Mechanismen für Fachkräfte nachzudenken, macht es mehr Sinn, wenn sich die deutsche Politik mit den vielen Baustellen beschäftigt, die das Einwanderungssystem derzeit belasten.
Asylverfahren
In erster Linie muss der Bearbeitungsstau bei den Asylverfahren beseitigt werden: Nach Angaben von Eurostat gab es Ende Januar 202.000 unerledigte Anträge (inklusive Gerichtsverfahren). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat nicht genug Personal und das Bundesinnenministerium stockt die Zahl der „Entscheider“ nicht ausreichend auf. Es sieht nicht danach aus, dass der Stau demnächst aufgelöst werden wird.
Anerkennung von Qualifikationen
Es ist zwar zu begrüßen, dass es seit 2012 in Deutschland ein Gesetz zur Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen gibt. Der Anerkennungsprozess kann allerdings Monate dauern, was wiederum zu einem zunehmenden „Anerkennungsstau“ führt. Dabei ist auch darauf hinzuweisen, dass Deutschland derzeit ein großes Qualifikations-Potential verschwendet: Fast jeder vierte Migrant in Deutschland geht nach Angaben der OECD einem Beruf nach, für den er überqualifiziert ist.
Einbürgerungen
In vielen Städten und Kreisen liegen unbearbeitete Anträge auf Einbürgerung. Es gibt dazu keine zentrale Statistik. Rechnet man aber die vorliegenden Angaben hoch, kommt man auf etwa 100.000 Menschen, die darauf warten, deutsche Staatsbürger zu werden. Auch in diesem Fall sind Antragsteller durch Bürokratie und lange Wartezeiten schwer belastet.
Zur Lösung dieser Probleme könnte unter anderem Folgendes beitragen:
- Das BAMF, die Einbürgerungsbehörden, die Ausländerämter und Botschaften sollten mehr qualifiziertes Personal einstellen, um die Anträge zügig abzuarbeiten und Stau zu vermeiden.
- Für die Bearbeitung von Anträgen – sei es für Asyl, Einbürgerung oder Visa – sollten zeitliche Fristen gesetzt werden, damit Menschen nicht jahrelang im Wartemodus stecken.
- Einige Drittstaatsangehörige wie Ukrainer, Russen und Türken sollten von der Visumpflicht befreit werden. Das würde auch die Zivilgesellschaft in diesen Ländern stärken.
- Die Bundesagentur für Arbeit sollte Außenstellen in den Ländern einrichten, aus denen derzeit viele junge und womöglich qualifizierte Migranten illegal einreisen, um sie besser über ihre Berufschancen in Deutschland zu informieren und einen legalen Einreiseweg zu öffnen.
Diese Verbesserungen könnten natürlich Teil eines neuen "Einwanderungsgesetzes" sein, das die Willkommenskultur zur Staatsräson erklärt und einen Paradigmenwechsel von der "Steuerung und Begrenzung" von Zuwanderung hin zu einer stimmigen Migrationspolitik vollzieht. Die Vorstellung aber, man könnte mit ein paar technischen Änderungen im Aufenthaltsrecht dafür sorgen, dass mehr gut qualifizierte Menschen nach Deutschland kommen und hier automatisch Anschluss finden, führt in die Irre.
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