Über eines sind sich inzwischen fast alle Parteien in Deutschland einig: Einwanderung ist für den Wohlstand der Bundesrepublik nicht nur hilfreich, sondern notwendig. Nach den heutigen Bedingungen würden dem deutschen Arbeitsmarkt in den kommenden 15 Jahren ohne Zuwanderung mehr als zwei Millionen Fachkräfte fehlen, erklärte etwa das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.
Diese Vorhersage bestätigt nun "Arbeitsmarkt 2030", die zweite Arbeitsmarkt-Prognose vom Forschungsinstitut Economix im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Dabei zeichnet sich eine klare Tendenz ab: Je höher die Zuwanderungsquote, desto besser die langfristigen Perspektiven für die deutsche Wirtschaft.
Der starke Anstieg der Zuwanderungszahlen in den letzten Jahren hat in diesem Sinn zu einer deutlichen Verbesserung der Prognosen geführt: In ihrer vorherigen Studie schätzten die Economix-Forscher, dass die Zahl der Erwerbspersonen in 15 Jahren um zwei Millionen zurückgehen würde. Den heutigen Schätzungen zufolge soll sich der Rückgang nach dem gleichen Entwicklungsmodell auf eine Million beschränken.
Einwanderung erhöht Pro-Kopf-Einkommen
Die meisten Einwanderer kommen aus dem EU-Raum. Die derzeitige „Einwanderungswelle“ sei somit von vorübergehenden Faktoren wie der Eurokrise abhängig, schreiben die Forscher. Diese werden sich voraussichtlich in den kommenden Jahren verflüchtigen. Deshalb haben sie zwei unterschiedliche Szenarien entworfen: ein Basis-Szenario mit einer Wanderungsbilanz von 210.000 Personen pro Jahr und ein Szenario mit „hoher Zuwanderung“, in dem jährlich 330.000 Menschen mehr ein- als fortwandern.
Bei der „Basisvariante“ wird die Zahl der Erwerbspersonen nur noch ein Jahr lang bis 44,2 Millionen steigen, dann wird sie allmählich zurückgehen, bis sie 2030 bei 42 Millionen liegt. Mit einer „hohen Zuwanderung“ hätte Deutschland hingegen noch drei Jahre lang einen Vorsprung gegenüber anderen industrialisierten Ländern. Aber auch hier würde die Zahl der Erwerbspersonen bis 2030 um etwa eine Million schrumpfen.
Entgegen der Meinung derjenigen, die Zuwanderer als Belastung für die Sozialsysteme sehen, haben sie eine positive Wirkung auf die Beschäftigungsquote: Bei einer „hohen Zuwanderung“ wird die Zahl der Erwerbstätigen um 1,1 Millionen Menschen höher liegen als bei der Basis-Berechnung. Auch würde das Bruttoinlandsprodukt und somit das Pro-Kopf-Einkommen sehr stark von einer hohen Zuwanderung profitieren: Die Forscher haben berechnet, dass eine „hohe Zuwanderung“ die Deutschen im Jahr um 0,25 Prozent reicher macht als eine „Basis-Zuwanderung“.
Nahles: Deutschland braucht ein Einwanderungsgesetz
Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) warnt allerdings davor, Einwanderung als Wundermittel gegen die strukturellen Defizite des Arbeitsmarkts zu sehen. Ohne Zuwanderung wäre Deutschlands Wirtschaft zwar nicht so stark, sagte sie während der Pressekonferenz zur Vorstellung der Economix-Studie. „Doch Zuwanderung alleine reicht nicht, um dem Land ein nachhaltiges Wachstum zu sichern: Wir müssen uns stärker dafür engagieren, dass Frauen, ältere Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund ihre Potentiale besser nutzen können.“
Vor diesem Hintergrund sprach Familienministerin Manuela Schwesig bei der Pressekonferenz von der Notwendigkeit, die Familienpolitik künftig so zu gestalten, dass Frauen und Männer gleichberechtigt am produktiven Leben teilnehmen können. Auch seien Investitionen in die Weiterbildung der Arbeitskräfte nötig.
Ein Potential, das bislang nicht erschlossen wurde, liegt nach Auffassung der Integrationsbeauftragten für Migration und Integration Aydan Özoğuz in der wachsenden Flüchtlingsbevölkerung: „Asylbewerber und Asylberechtigte können einen wichtigen Beitrag zum Wirtschaftswachstum leisten“, sagte Özoğuz bei der Pressekonferenz. Das könne allerdings nur dann geschehen, wenn sie die Möglichkeit erhalten, eine Ausbildung anzufangen. Dazu brauche es auch eine langfristige Perspektive in Deutschland. Dennoch sei die Suche nach qualifizierten Arbeitskräften streng von der Asylpolitik zu trennen, die weiterhin nach humanitären Kriterien erfolgen soll.
Sowohl Özoğuz als auch Nahles sprachen sich in diesem Zusammenhang für ein neues Einwanderungsgesetz aus, das einerseits die Bedeutung von Migration für die Zukunft Deutschlands festlegt, andererseits den künftigen Einwanderern neue Perspektiven bietet.
Von Fabio Ghelli
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