Im Mai 2000 – es war anlässlich eines Festaktes der Expo in Hannover – erfuhr ich von den Plänen der Bundesregierung, ein Gesetz zur zentralen Thematik Zuwanderung und Integration auf den Weg zu bringen. Zur Vorbereitung sollte eine unabhängige Kommission eingesetzt werden. Der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) fragte an, ob ich die Leitung dieser Kommission gemeinsam mit Hans-Jochen Vogel (SPD) als Stellvertreter übernehmen würde. Es gehe um die Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung sowie die notwendigen Maßnahmen zur Integration.Mir war klar, dass dieses Thema heftig umstritten, hoch emotionalisiert und polarisierend debattiert würde, mit der Kernthese: "Wir sind kein Einwanderungsland mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen." Aber wir brauchten Zuwanderinnen und Zuwanderer. Trotz 3,9 Millionen Arbeitslosen im Jahr 2000 bestanden bereits erhebliche Engpässe in bestimmten Berufsbereichen. Es war das Jahr, in dem die Bundesregierung auf Initiative von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sowie dem Drängen der Wirtschaft die sogenannte "Greencard" für Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologien eingeführt hatte. Und damit wurde mehr als nur eine weitere Ausnahmeregelung vorgenommen. Es war ein erster Schritt zu einem grundlegenden, paradigmatischen Wechsel.Der seit 1973 geltende Anwerbestopp wurde relativiert. Angesichts der zunehmenden globalen Verflechtungen und der Tatsache, dass Deutschlands Bevölkerung sank, war die geltende Maxime "Deutschland ist kein Einwanderungsland" faktisch und zukunftsbezogen nicht mehr zu halten. Doch gerade dieser überfällige, von Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft geforderte Perspektivwechsel löste heftige Debatten aus. CDU und CSU setzten in ihren Parteien eigene Kommissionen ein, um die Gegenargumente zu formulieren.
Migration und Integration sind untrennbar verbunden
Aber es ging um mehr als einen Parteienstreit – es ging um unser Land und seine Menschen. Zur Debatte stand die Zukunft Deutschlands und auch der Europäischen Union. Ich entschied mich, die Aufgabe mit 20 Expertenmit Mut zu neuem Denken und verantwortlichem Handeln zu übernehmen. Die Kommission wurde im Juni 2000 einberufen, ab September war sie arbeitsfähig. Uns allen war die politische Brisanz dieses Projekts bewusst: wenig Zeit für die Grundkonsenssuche, ganz unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen und der Entwurf eines Zukunftskonzepts.#1286#Dabei orientierten wir uns an ganz klaren Zielen: der humanitären Verantwortung gerecht zu werden, zur Sicherung des Wohlstands beizutragen, das Zusammenleben von Deutschen und Zuwanderern zu verbessern und Integration zu fördern. Deutschland war seit langem ein Zuwanderungsland. Das konnten wir belegen: 31 Millionen Deutsche und Ausländer waren seit 1954 zu- und eingewandert. 22 Millionen Menschen hatten Deutschland im gleichen Zeitraum wieder verlassen. 40 Prozent wohnten hier schon seit mehr als 15 Jahren.Doch es fehlte ein zukunftsfähiges Gesamtkonzept für die Steuerung der Zuwanderung und die Gestaltung der Integration, die untrennbar miteinander verbunden sind. Für den Entwurf eines solchen Konzepts kam es darauf an, die notwendigen Reformen in der Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Sozialpolitik und anderen Bereichen zu benennen. Das betraf nicht nur die Frage, wie der erforderliche Bedarf an Zuwanderern ermittelt, wie er gesteuert und begrenzt werden kann. Es ging auch darum, wie das Asylrecht (und damit die humanitären Verpflichtungen) gewahrt, die Verfahren fairer, effektiver und kürzer gestaltet und Missbräuchen entgegengewirkt werden konnten.Bei diesen Empfehlungen ging es stets darum, möglichst alle in unserem Land mitzunehmen, unsere Vorschläge zu begründen, verständlich zu vermitteln und Gegenargumente zu berücksichtigen. Es ging um einen Perspektivwechsel, eine neue Sicht der Zu- und Einwanderer: von den Defiziten zu den Potenzialen; von den Belastungen zu den Bereicherungen; von den Konflikten zu den Lösungen.