MEDIENDIENST: Herr Richter, die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen jähren sich zum 30. Mal. Sie waren mit im Sonnenblumenhaus, als es ab dem 22. August 1992 von einem Mob angegriffen wurde. Wie kam es dazu, dass Sie sich zusammen mit ehemaligen vietnamesischen "Vertragsarbeiter*innen" dort aufhielten?
Wolfgang Richter: Die Situation vor Ort hat sich über Wochen zugespitzt. Viele Geflüchtete aus Rumänien mussten tagelang auf der Wiese vor dem Haus ausharren, um ihre Asylanträge bei der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber stellen zu können. Das war ein unhaltbarer Zustand, der viel Unmut und Konflikte hervorgebracht hat. Einige Tage vor den Ausschreitungen meldete sich ein anonymer Anrufer bei der Lokalzeitung. Er drohte, es werde am Sonnabend, also am 22. August 1992, "für Ordnung gesorgt". Da war mir klar, dass etwas passieren wird. Ich sah es als meine Aufgabe an, bei den Menschen zu sein, die bedroht wurden.
Wie war die Stimmung unter den "Vertragsarbeiter*innen" und Ihnen in den Tagen vor den Ausschreitungen?
Bei uns herrschte völliges Unverständnis darüber, warum die Behörden nicht dafür sorgen konnten, dass die Menschen von dieser Wiese runterkommen können. Das war ja der Anlass dafür, dass es zu diesen Gewalttaten kam. Die Behörden haben versichert, die Situation ernst zu nehmen. Aber es geschah nichts.
Haben sie daran gedacht, das Sonnenblumenhaus zu verlassen?
Es war die Verantwortung der Polizei und anderer Behörden, die Menschen im Haus zu schützen. Die Vietnames*innen lebten dort und hatten keinen Fluchtort. Für uns war es nicht notwendig, die Flucht zu ergreifen. Am 22. August flogen die ersten Steine gegen das Haus. Da waren zeitweise nur 25 Polizisten, um das Haus zu schützen. Sie sahen sich rund 100 rechten Gewalttätern gegenüber, die von vielen anderen Menschen auch noch angefeuert wurden. Die Beamten standen da ohne Schutzkleidung. Sie haben ihr Leben riskiert, um uns zu schützen. Ich hatte allergrößten Respekt vor ihnen. Erst nach und nach kamen mehr Polizeibeamte.
Was geschah in der zweiten Nacht?
In der zweiten Nacht reisten viele rechte Gewalttäter aus der ganzen Republik an, nachdem die Ausschreitungen tags zuvor Thema in vielen Medien waren. Was als Rostocker Angelegenheit begann, wurde so zu einer bundesweiten Angelegenheit. Die Gewalttäter waren gut organisiert, sie gingen systematisch vor beim Versuch, das Haus anzugreifen. Die Polizei auf der anderen Seite bekam Unterstützung von zwei Hundertschaften aus Hamburg. Erst danach hatten die Beamten das Geschehen halbwegs unter Kontrolle. Wir sind dann relativ gelassen in den Montag gegangen.
Es kam dann ganz anders als erwartet.
Am Montagabend waren wir ab 21 Uhr völlig ungeschützt im Haus. Die Polizei war abgezogen worden. Als ich das bemerkt habe, bin ich runter in den ersten Stock in die Pförtnerloge. Dort war das einzige Telefon. Ich habe die Einsatzzentrale der Polizei angerufen. Das Telefonat musste ich dann abbrechen, weil unten die ersten Gewalttäter versuchten, ins Haus einzudringen und das Haus in Brand zu setzen.
Ich bin dann wieder hoch in den fünften Stock. Dort und weiter oben waren die Wohnungen der Vietnamesen. Es war klar, dass wir uns selbst helfen müssen. Wir wussten: Von der Polizei und der Feuerwehr wird uns keine Hilfe erreichen. Wir mussten also aktiv werden. Wir hatten keine Zeit, entsetzt zu sein über die Situation.
Wir haben uns in zwei Gruppen geteilt. Eine Gruppe, zu der ich gehörte, hat die Fahrstühle nach oben geholt und blockiert. Wir haben außerdem die Treppenaufgänge verbarrikadiert. Ein anderer Teil von uns ist Richtung Dach gegangen und hat versucht, die gut gesicherten Stahltüren zum Dach zu öffnen. Das war der einzige mögliche Fluchtweg für uns.
Wie viele Menschen waren im Haus?
Rund 130. Rund 110 vietnamesische Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter, eine Gruppe Jugendliche aus einem linken Jugendzentrum, die zur Unterstützung da waren. Und ein ZDF-Fernsehteam. Das TV-Team wollte an dem Tag Interviews mit vietnamesischen Familien drehen. Sie waren die einzigen, die sich für das Schicksal der Betroffenen interessiert haben. Die anderen Journalisten haben nur von der Randale vor dem Haus berichtet.
Haben die Angreifer versucht, sie im fünften Stock anzugreifen?
Wir haben gehört, wie unten Mobiliar und Glas zerstört wurde. Die Angreifer haben Feuer gelegt. Sie haben nicht versucht, nach oben zu kommen. Irgendwann, nach rund zwei Stunden, kam von oben das Signal, dass der Weg zum Dach frei ist.
Wir sind dann von Wohnung zu Wohnung gegangen und haben den Menschen gesagt, dass sie mit uns aufs Dach kommen sollen. Immer in der Mitte halten, geduckt gehen, damit uns die Meute unten nicht sieht.
Wir sind dann über das Dach zu einem anderen Aufgang dieses großen Häuserblocks gegangen. Dort lebten deutsche Familien. Wir haben an jeder Tür geklingelt, um zumindest für die Frauen und die wenigen Kinder, die da waren, Unterschlupft in einer Wohnung zu finden. Zwei haben die Türen geöffnet. Später wurden wir evakuiert von Polizei und Feuerwehr.
Was geschah danach?
In der Nacht sind die Vietnamesen mit zwei Bussen in eine Turnhalle gebracht worden. Die Verhältnisse waren da nicht gut. Es gab keine Betten, nur Matten. Danach wurden die Menschen für 14 Tage in einem Landschulheim untergebracht. Dort konnten sie zur Ruhe kommen.
Haben sie damals psychologische Unterstützung bekommen?
Nein, daran hat niemand gedacht. Unsere psychologische Unterstützung war, miteinander zu reden. Noch heute merken wir, dass die Angriffe nicht spurlos an uns vorbeigegangen sind.
Haben Sie den Eindruck, dass die richtigen politischen Konsequenzen aus den Pogromen gezogen worden?
In Bezug auf Rostock glaube ich das auf jeden Fall. Es sind zum Beispiel Menschen an die Spitze der Rostocker Polizei gekommen, die eine sehr klare Haltung hatten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Viele Jahre war Michael Ebert Leiter der Polizeiinspektion in der Stadt. Er selbst hatte als junger Beamter seinen allerersten Einsatz in Lichtenhagen, das hat ihn geprägt. Mit ihm bin ich auch heute noch befreundet. Auch die Stadtverwaltung hat sich später klar gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus positioniert. Es hat sich eine Menge verändert.
Wie viele von den "Vertragsarbeiter*innen" sind in Rostock geblieben?
Die allermeisten. Noch im Landschulheim haben sie überlegt, was sie tun müssen, um stärker in der Rostocker Zivilgesellschaft wahrgenommen zu werden. Sie haben die Entscheidung getroffen, einen Verein zu gründen und sich zu engagieren. Das war das bemerkenswerteste, was ich in den 30 Jahren politischer Arbeit erlebt habe. Den Verein – Diên Hông-Gemeinsam unter einem Dach – gibt es bis heute. Das ist herausragend.
Interview: Mehmet Ata
Lese- und Hörtipps zum Thema
DOKUMENTARFILM
"The Truth lies in Rostock" – Die Wahrheit lügt (liegt) in Rostock (1993)
Der Dokumentarfilm vom britischen Produzenten Mark Saunders war eine der ersten Filme, die sich kritisch mit den Ereignissen im "Sonnenblumenhaus" auseinandergesetzt haben. Es war auch einer der ersten, der die Perspektive von vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen und der Geflüchteten in den Vordergrund rückte.
ESSAY
Rostock-Lichtenhagen – Die Rückkehr des Verdrängten (2012)
Der in Vietnam geborene Politologe Kien Nghi Ha beleuchtet in einem Essay für die Heinrich Böll Stiftung die Versäumnisse der Erinnerungskultur rund um Rostock-Lichtenhagen. Insbesondere kritisiert Ha, dass sich die Berichterstattung über Jahrzehnte hinweg fast ausschließlich auf die Perspektive der Täter*innen fokussiert hat.
BUCH
Rostock Lichtenhagen 1992-2017: Aufarbeitung und Erinnerung als Prozess der lokalen politischen Kultur (2018)
Die Rostocker Politik- und Verwaltungswissenschaftlerin Gudrun Heinrich hat in diesem Buch analysiert, wie die rassistische Gewalt in Rostock-Lichtenhagen aufgearbeitet wurde – und wie Rostocker*innen heute mit der Erinnerungskultur rund um die Ausschreitungen umgehen.
HÖRSPIEL
Das Sonnenblumenhaus (2022)
Regisseur Dan Thy Nguyen hat die Geschichten vieler vietnamesischer Vertragsarbeiter*innen aus Rostock in einem Hörspiel gesammelt, in dem persönliche Erinnerungen und historische Ereignisse in einer Erzählung verschmelzen.
PODCAST
Tatort Geschichte – Die rassistischen Angriffe von Rostock-Lichtenhagen 1992 (2022)
In diesem Podcast des Bayerischen Rundfunks analysieren Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt die Hintergründe, die zu den Ausschreitungen im August 1992 führten – sowie deren Folgen für die politische Geschichte Deutschlands.
DOKUMENTARFILM
Die Narbe – Der Anschlag in Rostock-Lichtenhagen (2022)
In einem neuen Dokumentarfilm zeigt der Norddeutsche Rundfunk, welche Folgen die rassistische Gewalt in Rostock-Lichtenhagen für die Opfer hatte und welche Auswirkungen diese auf Rostocker*innen mit Einwanderungsgeschichte in der zweiten Generation hat.
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