Im August 1992 wurde in Rostock-Lichtenhagen ein Wohnheim von vietnamesischen Vertragsarbeitern und Geflüchteten drei Tage lang von einer Menschenmenge belagert. Angereiste Neonazis und Anwohner aus Rostock warfen Steine und versuchten, in das Haus zu gelangen. Am dritten Tag zündeten sie das Gebäude an. Der damalige Ausländerbeauftragte der Stadt Rostock, Wolfgang Richter, befand sich zum Zeitpunkt des Anschlags im Haus.
„Der Pogrom hat sich bereits über längere Zeit abgezeichnet“, sagte Richter beim Pressegespräch des MEDIENDIENSTES. Lange vor den Ausschreitungen hatte es Anfeindungen gegenüber Minderheiten gegeben. Grund dafür war auch, dass sich vor dem Haus über Wochen Asylbewerber aufhielten, da sie keine Unterkunft hatten. „Die Situation für Geflüchtete, Vertragsarbeiter und Anwohner war unzumutbar“, erklärte Richter. Stadtpolitik, Innenministerium und Polizeiführung in den Neunzigern hätten „eklatant versagt“ und nicht ernsthaft nach Lösungen gesucht.
Gefahr durch Rechtsextremisten auch heute groß
Und heute? „Ich glaube nicht, dass das so noch einmal passieren kann“, sagte Richter. Politik und Polizei hätten dazu gelernt. Zudem gebe es heute deutlich mehr Menschen aus der Zivilgesellschaft, die sich rechtsextremer Gewalt entschieden entgegenstellten. Wenn aber Menschen mit fremdenfeindlichen, rassistischen Vorurteilen einen Anlass fänden gewalttätig zu werden, würden sie das auch heute tun.
Auch Bianca Klose, Leiterin der „Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin“ wies auf aktuelle Gefahren hin: „Die Situation hat sich 25 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen nicht grundsätzlich geändert“, betonte sie beim Pressegespräch. In den letzten Jahren habe sich gezeigt, dass viele Menschen in Deutschland rassistisch und rechtsextrem aktivierbar und mobilisierbar seien. Zudem seien die demokratischen Parteien anfällig für rechte Forderungen. „Pegida und AfD treiben die etablierten Parteien teilweise regelrecht vor sich her“, so Klose.
Anders als zu Beginn der 90er Jahre gebe es jedoch vielerorts zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rassismus. Auch ginge ein Großteil der Medien verantwortungsvoller mit dem Thema um. Laut Klose gelte aber weiterhin, „sich solidarisch vor diejenigen zu stellen, die angegriffen und ausgegrenzt werden“.
„Wir müssen mehr über Alltagsrassismus diskutieren“
Die Rassismusforscherin Beate Küpper von der „Hochschule Niederrhein“ beobachtet eine Polarisierung in der Bevölkerung. Zwar vertrete ein Großteil der Menschen in Deutschland demokratische Werte. Viele Bürger seien jedoch noch immer geprägt von Vorurteilen. „Auch ein harter biologistisch argumentierender Rassismus nimmt wieder zu“, so Küpper.
Sie plädierte dafür, mehr über Alltagsrassismus in der Gesellschaft zu diskutieren. Rassistische Ausdrücke und Gewalt tauchten inzwischen wieder häufiger in der öffentlichen Debatte auf. „Die Grenzen des Sagbaren verschieben sich nach rechts“, so Küpper. Das habe Auswirkungen auf Rechtsextreme, die sich darin bestärkt fühlten, Gewalt anzuwenden. „Wir müssen daher aufpassen, wie wir uns an Sprache und Gewalt gewöhnen“, sagte Küpper.
„Die Perspektive der Vietnamesen kommt kaum zur Sprache“
In Debatten über Rassismus müssten auch die Betroffenen zu Wort kommen, forderte die Zeitzeugin Mai-Phuong Kollath. Sie kam 1981 als Vertragsarbeiterin aus Vietnam nach Rostock und war wenige Monate vor den Ausschreitungen aus dem Heim in Lichtenhagen ausgezogen. Nach dem Pogrom engagierte sie sich im deutsch-vietnamesischen Verein Dien-Hong, der sich für interkulturelle Verständigung in Rostock einsetzt.
Auch nach 25 Jahren spiele die Perspektive der Vietnamesen kaum eine Rolle, findet Kollath. „Für eine echte Auseinandersetzung mit den Ereignissen von damals ist diese Perspektive aber enorm wichtig.“ Viele Vietnamesen in Deutschland verhielten sich passiv und freundlich, damit sie keine Angriffsfläche bieten. Sie müssten dazu ermutigt werden, ihre Sicht auf die Geschehnisse zur Sprache zu bringen: „Es ist wichtig, den Betroffenen eine Stimme und ein Gesicht zu geben“, so Kollath.
Von Felix Böhmer
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