Eine Frau schreibt an eine Schultafel das Wort Integration. Die anonyme Linkshänderin ist der "Klassiker" unter den Symbolbildern für Presse- und Online-Berichte, wenn es um das Einwanderungsland geht. Entstanden ist es für die Deutsche Presse-Agentur (dpa) im November 2004 in der interkulturellen Frauenbegegnungsstätte "verikom" in Hamburg-Wilhelmsburg.
Fotograf Patrick Lux war damals als Volontär für dpa unterwegs und sollte einen Artikel für den Textdienst bebildern. Die Situation sei "fotografisch nicht einfach" gewesen, da die Kursteilnehmerinnen auf den Bildern nicht erkannt werden wollten, erinnert er sich. Er bat eine Frau aus dem Deutschunterricht, das Wort an die Tafel zu schreiben, und fotografierte sie von der Seite und von hinten. Das Ergebnis war ein gestelltes Foto für die Themen Integration, Bildung, Deutschkurs.
Es wird jedoch auch in anderen Zusammenhängen genutzt. Zuletzt illustrierten damit zahlreiche Medien ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Deutschtest für türkische Eheleute. Bild.de beispielsweise verwendete es mit der Bildunterzeile: "Der Europäische Gerichtshof (EuGH) kippt den Deutschtest für nachziehende Ehepartner. Geklagt hatte eine Analphabetin aus der Türkei". Auch andere Medien fanden das Bild für das EuGH-Urteil am aussagekräftigsten, wie etwa faz.net und n-tv.de. Über die Jahre hat es Verwendung in völlig unterschiedlichen Themenfeldern gefunden:
- Etwa zur Anzahl der Menschen mit Migrationshintergrund in Bayern 2014. Die Überschrift in der Augsburger Allgemeinen: "Jeder fünfte Bayer hat ausländische Wurzeln".
- Focus Online berichtete damit 2010 über "Italien: Migrantenquoten in Schulklassen".
- Der WDR machte aus der Schülerin symbolisch eine Lehrerin und verwendete das Foto 2006 für einen Bericht in Sachen Lehramt, mit dem Titel "Kopftuchstreit: Landtag beschließt Kopftuch-Verbot".
Patrick Lux sieht das heute kritisch: "Will man journalistische Fotografien symbolhaft verwenden, darf man sie nicht aus ihrem Zusammenhang reißen", sagt der Urheber. Den meisten Medienschaffenden sei bewusst, dass Bilder eine ebenso starke Wirkung haben können wie die Texte. "Darum ist es erstaunlich, dass bei der Fotoauswahl nicht die gleichen Maßstäbe angelegt werden." Würde die journalistische Sorgfaltspflicht gewahrt, "würden sich viele Fotos zur Illustration geradezu von selbst verbieten". Im aktuellen Beispiel des EuGH-Urteils trage sein Bild "mehr zur Ver- als zur Aufklärung bei", so Lux.
„Das erstbeste Symbolbild, auch im Sinne des Formats“
Die omnipräsente Verwendung ist jedoch leicht nachvollziehbar: Im dpa-Bildarchiv stößt man schnell auf das Foto, das unter anderen mit den Begriffen „Ausbildung, Politik, Schulen, Sprachen, Frauen, Türkei, Einzel Profil, Symbolbild“ verschlagwortet ist. Meist taucht es unter den ersten Treffern auf, wenn man das Stichwort „Integration“ eingibt. Hinzu kommt: Die Agenturen senden mit ihren Meldungen oftmals auch Bilder. So geschehen bei der Agenturmeldung zum EuGH-Urteil:
Die dpa-Fotoredaktion schickte zwei Motive als Vorschlag – besagtes Bild der Hamburger Linkshänderin und ein weiteres, auf dem eine Frau ohne Kopftuch zu sehen ist. Laut Michael Kappeler, Leiter der dpa-Fotoredaktion, ist das ein üblicher Service, um den Kunden das Recherchieren in der Datenbank zu ersparen.
Symbolbilder dienen dazu, "abstrakte Themen visuell greifbar zu machen“, erklärt Kappeler. Was sich die Kunden dabei wünschen? Am besten Bilder, die "illustrativ so reduziert sind, dass man das Thema erkennen kann, ohne den Text zu lesen". Diskussionen darüber, wie bestimmte Themen illustriert werden können, ohne Klischees zu bedienen, gebe es immer wieder. Wie schwierig das ist, sei unlängst deutlich geworden, als es um Fotos zu Frauen in Führungspositionen ging. Die letzte Entscheidung liege allerdings ohnehin bei den Redaktionen: „Was der Redakteur wählt, bleibt ihm selbst überlassen“, sagt Kappeler.
Nach welchen Kriterien also erfolgt die Auswahl dieses Bildes in den Redaktionen?
Bei Agenturmeldungen werde in der Regel das Bild verwendet, das mitgeliefert wurde, erklärt Kai Gohlke, Chef vom Dienst bei der Mittelbayerischen Zeitung. Wenn keines vorliegt, werde im Archiv mit Schlagworten nach einer passenden Illustration gesucht und „das erstbeste Symbolbild, auch im Sinne des Formats“ verwendet. „Sie dürfen sich das nicht so vorstellen, dass eine halbe Stunde nach einem passenden Foto gesucht wird“, so Gohlke. Das Hauptkriterium für die Bildauswahl in der Online-Ausgabe sei nun mal „das Praktische“.
"Der Zeitfaktor spielt eine wichtige Rolle"
Stefan Winter, bei faz.net für die Rhein-Main Online-Seiten zuständig, bestätigt: Meist werde auf das Agenturmaterial zurückgegriffen. Bei der dpa-Meldung zum EuGH-Urteil sei auch hier die Entscheidung für die Frau mit dem Kopftuch gefallen. Grundsätzlich gehe es den Kollegen darum, "sinnfällig" zu bebildern. Winter wirft ein, dass das besagte Motiv eine „gewisse Komik“ in sich berge. „Es ist schon absurd: Es ist nicht vorstellbar, dass eine Deutsch lernende Türkin im Sprachkurs das Wort Integration an die Tafel schreibt.“ Doch der Zeitfaktor spiele eben eine wichtige Rolle. Hinzu komme die Tatsache, „dass Online-Redakteure in der Regel keine Spezialisten im Themengebiet Migration und Integration sind“.
Die aber sind in vielen Fällen für die Bildauswahl zuständig, wie N-TV-Sprecherin Bettina Klauser erklärt. "Die Online-Redakteure treffen ihre Entscheidungen eigenständig", sagt sie dem Mediendienst. Bei der Illustration des EuGH-Urteils habe aus Sicht des zuständigen Kollegen eben dieses Bild "das Thema Integration perfekt auf den Punkt gebracht".
Medienforscherin Sabine Schiffer hat bereits 2008 in einem Artikel darauf hingewiesen, dass Motive mit Kopftuchträgerinnen längst gang und gäbe sind, wenn es darum geht, Beiträge im Themenfeld Integration(sprobleme), Migration und Islam zu illustrieren. Und das, obwohl nur ein Fünftel der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland Muslime sind – und von denen nur eine Minderheit ein Kopftuch trägt. Doch das gut erkennbare Symbol stehe inzwischen für Fremdheit, so Schiffer. "Mit den Folgen dieser Kategorisierung haben Frauen mit Kopftuch in ihrem realen Alltag zu kämpfen“, schreibt sie. Die Wirkung von Bildern auf die Wahrnehmung muslimischer Frauen thematisierte auch Psychologin Deniz Başpinar 2011 in einem Artikel auf Zeit-Online.
Von Ferda Ataman und Canan Topçu
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