In Deutschland wird der Begriff "Migrant" in der Regel für Menschen gebraucht, die aus einem anderen Land nach Deutschland gekommen sind. Und hier bleiben. Doch diese Vorstellungen von Migranten und Migration allein ist nicht zeitgemäß, wie immer mehr Wissenschaftler betonen. Viele Menschen kommen nach Deutschland, um für eine bestimmte Zeit hier zu leben und dann in ihr Heimatland zurück zu gehen oder in ein drittes Land zu ziehen.
Es ist schwierig, das genaue Ausmaß dieser "zirkulären Migration" zu erfassen. "Konkrete Zahlen gibt es kaum, da sich die Wanderungsbewegungen einzelner Personen von einem ins andere Land und umgekehrt in der Regel nicht nachhvollziehen lassen", so Steffen Angenendt, Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Globale Fragen bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Alle vorliegenden Daten internationaler Organisationen wie der OECD, der Vereinten Nationen (UN) oder der International Labour Organisation (ILO) lassen aber darauf schließen, dass befristete und wiederholte Wanderungsbewegungen zunehmen. "Und es ist höchst plausibel, dass sie in Zukunft weiter zunehmen werden", so Angenendt.
Für Deutschland lässt sich anhand des Ausländerzentralregisters lediglich die Zahl zirkulärer Migranten unter den Drittstaatsangehörigen ermitteln. Man kann davon ausgehen, dass mindestens 10,7 Prozent von ihnen zirkuläre Migranten sind, die die Grenze zu Deutschland also mindestens zweimal (bei Geburt in der Bundesrepublik) bzw. dreimal überschritten haben.Quelle
Studenten können ebenso zu den vorübergehenden oder wiederholten Migranten zählen wie Saisonarbeiter, Hochqualifizierte oder Rentner, die zwischen zwei Ländern hin und her pendeln. Die zunehmende grenzüberschreitende Vernetzung von Wirtschaft, Handel, Kommunikation und Verkehr begünstigt diese neuen Wanderungsformen. Relativ einfach lässt sich davon die "temporäre Migration" unterscheiden, bei der es sich auch um eine vorübergehende, aber eben nur einmalige Migrationsbewegung von A nach B handelt.
Woher kommt der Begriff und wie wird er verwendet?
"Zirkuläre Migration" ist eigentlich kein neuer Begriff, der breiten Öffentlichkeit bisher jedoch weitgehend unbekannt. Eingeführt wurde er zunächst von Ethnologen und Anthropologen, um mehrfache Wanderungsbewegungen von Menschen in Afrika und Asien zu beschreiben. Mittlerweile wird er auch in anderen Disziplinen wie der Migrationsforschung benutzt. Neben der beschreibenden kommt ihm aber auch eine wertende Bedeutung zu. "Konsens in der Wissenschaft ist, dass zirkuläre Migration transnationale Mobilität bedeutet, die gefördert werden sollte", so Angenendt.
Der Begriff hat auch Eingang in die Politik gefunden. "Das Problem beim Begriff zirkuläre Migration ist, dass er in unterschiedlichen Bezügen verwandt wird, dem unterschiedliche Auffassungen und Ziele zugrunde liegen können. In der politischen Debatte ist weitgehend unklar, was unter zirkulärer Migration verstanden werden soll und dementsprechend unterschiedlich sind auch die Antworten", so Angenendt.
Unterschiedliche Konzepte und Zwecke
In die internationale Politik fand der Begriff um die Jahrtausendwende durch Institutionen wie die Weltbank oder der 2003 vom Generalsekretär der Vereinten Nationen und einigen Regierungen gegründeten "Global Commission on International Migration" Eingang. Im Oktober 2006 sorgte er durch ein Strategiepapier für Aufmerksamkeit, das Nicolas Sarkozy und Wolfgang Schäuble ihren Amtskollegen bei einem informellen Treffen der Innenminister der sechs größten EU-Staaten vorlegten.
In ihrer "deutsch-französischen Initiative für eine neue europäische Migrationspolitik" wurde die "zirkuläre Migration" vor allem als Konzept zur Steuerung der legalen Migration und Eindämmung der irregulären Zuwanderung von Drittstaatern präsentiert. Konkret sollte dies durch befristete Migrationsprogramme und Quoten für bestimmte Berufe und die Verhandlung mit Dritstaaten über die Rücknahme von Migranten ohne gültige Aufenthaltserlaubnis geschehen. "Zirkuläre Migration" wurde hier also auch als sicherheitspolitisches Konzept verwandt.
Eine abweichende Auffassung formuliert die Europäische Kommission. In einer Mitteilung von 2005 werden vor allem die entwicklungspolitischen Vorzüge der "zirkulären Migration" hervorgehoben. Sie würde einen Transfer von Kenntnissen und damit die Entwicklung der Herkunftsländer befördern und so dem Brain-Drain (also dem Abwandern von Hochgebildeten und -Qualifizierten) entgegenwirken. Zudem könnten durch Reinvestitionen in den Ursprungsländern Arbeitsplätze entstehen. Das Europäische Parlament hat sich dieser Auffassung eines wechselseitigen Gewinns für Herkunfts- und Zielländer weitgehend angeschlossen und emfpiehlt, "zirkuläre Migration" gezielt zu fördern. Quelle
Politische Ebene in Deutschland
Für EU-Bürger ist die zirkuläre Migration innerhalb der EU – zumindest rechtlich – aufgrund der Personen- und Arbeitnehmerfreizügigkeit bereits weitgehend möglich. Auf der Pressekonferenz des diesjährigen Integrationsgipfels betonte Bundeskanzlerin Merkel jedoch, sie glaube, "dass es die nächste große Aufgabe neben dem Binnenmarkt ist, eine Arbeitsmarktmobilität, einen Binnenmarkt im Arbeitsmarkt zu entwickeln. Die wird eine Vergleichbarkeit der Abschlüsse erfordern. Die wird auch sehr viel mehr eine Portabilität der Sozialansprüche beinhalten. Aber wir müssen darüber ganzheitlich nachdenken, nicht als ein Entweder-Oder." Deutschland habe gar keinen Anspruch darauf, dass beispielsweise jemand, der in Deutschland eine Ausbildung gemacht habe, sein ganzes Leben lang in Europa beziehungsweise in Deutschland bleiben müsse.
Auf nationaler Ebene gibt es in Deutschland bisher keine festen Arbeitsdefinitionen und gezielten Programme zur Steuerung oder Förderung zirkulärer Migration. Es bestehen jedoch bereits Regelungen (wie etwa für Saisonarbeiter, Gastarbeitnehmer oder zum internationalen Personalaustausch), die bereits jetzt vielen Personen ermöglichen, vorübergehend oder wiederholt zwischen ihrem Herkunftsland und Deutschland hin und her zu wandern. Quelle
Pendelmigration zwischen Deutschland und der Türkei
Auch die Migration zwischen Deutschland und der Türkei hat sich weiterentwickelt. Sie bestehe keineswegs mehr nur aus Heirats- oder Familienmigration, pendelnden Ruheständlern oder politischen Flüchtlingen, so Yasar Aydin von der Stiftung Wissenschaft und Politik. In Zusammenarbeit mit der Hans-Böckler-Stiftung und dem TürkeiEuropaZentrum der Universität Hamburg hat der Migrations- und Türkeiforscher die Tagung "Zirkuläre Migrationsbewegungen zwischen Deutschland und der Türkei in transnationaler Perspektive" konzipiert, die am 21. und 22. Juni in Hamburg stattfindet.
"Heute kommt es viel häufiger zu temporären Migrationsbewegungen in beide Richtungen. Darunter sind Studenten oder Arbeitskräfte, die nach Ablauf ihres Studiums oder Vertrages in die Türkei zurückgehen. Genau so passiert das zunehmend aber auch in umgekehrter Richtung", so Aydin. Diese zirkulären Migrationsbewegungen würden im Zusammenhang mit dem Migrationsgeschehen zwischen Deutschland und der Türkei bisher jedoch noch zu wenig thematisiert.
Genaue Zahlen über die zirkuläre Migration zwischen Deutschland und der Türkei gibt es nicht. Bekannt ist aber, dass seit 2006 mehr Menschen von Deutschland in die Türkei ziehen als umgekehrt. 2011 waren dies laut Statistischem Bundesamt 1.735 Menschen. Es zogen 5.285 Deutsche in die Türkei und 3.166 aus der Türkei nach Deutschland. Unter Nicht-Deutschen ist die Wanderungsbilanz geringfügig positiv: Es kamen 384 mehr Menschen aus der Türkei, als gingen. Darüber, wer genau kommt und geht, wie viele Akademiker oder wie viele Personen mit türkischem Migrationshintergrund unter den Deutschen sind, die in die Türkei auswandern, weiß man indes nur wenig.Der gerade im Zusammenhang mit in die Türkei abwandernden Akademikern häufig verwendete Begriff "Rückkehrer" trifft Aydin zufolge häufig nicht zu. "Viele Menschen gehen nicht 'zurück', weil sie nicht für immer gehen und oft in Deutschland geboren sind."
Eine Zahl gibt jedoch einen Anhaltspunkt zur zirkulären Migration zwischen beiden Ländern: "Von den rund 30.000 Personen, die 2011 aus der Türkei nach Deutschland kamen, haben weniger als 10.000 ein Visum erhalten. Alle anderen müssen also bereits zuvor in Deutschland gewesen sein", so Aydin. Die doppelte Staatsbürgerschaft würde sich seiner Meinung nach positiv auf die Pendelmigration auswirken, da sie die Mobilität zwischen und die Möglichkeiten der Personen in beiden Ländern steigern würde. Und die aktuellen Proteste gegen den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und die sich zuspitzende Situation in der Türkei? "Das bleibt abzuwarten. Wenn es zu einer weiteren Demokratisierung in der Türkei kommt, wird sich das sicher positiv auswirken. Entwickelt sie sich in eine repressive Richtung, dürfte sie weniger attraktiv als Zielland für potentielle Migranten werden."
Ein Begriff für die Zukunft?
Laut Aydin birgt die deutsch-türkische Pendelmigration für beide Seiten Vorteile. Sie führe zu einem Transfer von Qualifikationen, Kontakten und Erfahrungen sowie von kulturellen und finanziellen Ressourcen. Unsere klassische Vorstellung von Migration als dauerhafter Wanderungsbewegung treffe oft nicht mehr zu. Der Begriff "zirkuläre Migration" hingegen werde der Tatsache, dass es immer mehr Menschen gäbe, die zu Ausbildungs- oder Arbeitszwecken temporär zwischen den Ländern hin- und herwandern, besser gerecht.
Angenendt hingegen hält den Begriff "zirkuläre Migration" nur bedingt für brauchbar. "Ich plädiere sehr dafür, statt von zirkulärer Migration von Mobilität zu sprechen. Mobilität beschreibt besser, dass Migration dann Vorteile birgt, wenn sie freiwillig ist", so Angenendt.
Rana Göroğlu, MDI
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