Ja, es ist wahr: Seit 2006 ziehen kontinuierlich mehr Menschen von Deutschland in die Türkei, als umgekehrt. Es gehen also mehr Menschen in das Land, dessen Auswanderer die größte ethnische Minderheit in Deutschland stellen. Dies belegen die Erhebungen des Statistischen Bundesamtes. Aber das ist auch schon das Einzige, was so klar formuliert werden kann. Aussagen darüber, wer da eigentlich in die Türkei geht oder von dort kommt, lassen sich anhand der erhobener Daten nicht treffen.
So erfasst das Statistikamt weder den Migrationshintergrund, noch die berufliche Qualifikation der Ein- und Auswanderer. Auch wird nicht erhoben, ob es sich bei denjenigen mit türkischer Staatsangehörigkeit um dauerhafte Auswanderer handelt, die in ihre "Heimat" zurückkehren, oder um solche, die für eine bestimmte Frist zum Arbeiten ins Ausland gehen und wieder zurückkommen wollen nach Deutschland.
Genauso wenig lasen sich Aussagen über Ein- und Auswanderer mit deutscher Staatsangehörigkeit machen. Wie viele von ihnen sind beispielsweise gebürtige Türken? Wie viele Deutsche ohne Migrationshintergrund? Nicht bekannt.
Halten wir also fest: Das Statistische Bundesamt erfasst weder die Motive für Migration, noch die geplante Aufenthaltsdauer oder den Ausbildungsgrad. Wir wissen also nicht, warum die Auswanderer gehen, für wie lange sie gehen, wie qualifiziert sie sind und ob sie einen sogenannten Migrationshintergrund haben.
Was wissen wir konkret?
Wir wissen, wie viele Menschen insgesamt von einem Land ins andere wandern, wie alt sie sind und welchen Pass sie haben. Laut Wanderungsstatistik für das Jahr 2011 zogen 31.021 Menschen aus der Türkei nach Deutschland, während 32.756 Personen Deutschland in Richtung Türkei verließen. Es gingen also 1.735 mehr, als kamen.
Schlüsselt man diese Gesamtzahlen nach Staatsangehörigkeiten auf, ist zu erkennen, dass das Saldo lediglich bei den Deutschen negativ ist: Es zogen 5.285 Deutsche in die Türkei und 3.166 aus der Türkei nach Deutschland. Unter Nicht-Deutschen ist die Wanderungsbilanz geringfügig positiv: Es kamen 384 mehr Menschen aus der Türkei, als gingen.
Nach Altersgruppen betrachtet, lässt sich feststellen, dass die aus Deutschland Fortziehenden älter sind, als die Zuzügler aus der Türkei. Dies ist vermutlich auf zwei Umstände zurückzuführen: Erstens auf die türkeistämmigen Rentner, die zwischen beiden Ländern pendeln oder in die alte Heimat zurückkehren, und zweitens auf die Heiratsmigranten aus der Türkei.
Wenn, wie in den letzten Jahren häufig, in den Medien von gut ausgebildeten Türken die Rede ist, die „Deutschland den Rücken“ kehren, dann handelt es sich um Berichte über Einzelschicksale. Daraus eine Tendenz der Abwanderung von hochqualifizierten Deutschtürken abzuleiten, ist bei genauer Betrachtung problematisch.
Yunus Ulusoy, Migrationsforscher am Zentrum für Türkeistudien und Integration in Essen, spricht vorsichtig von Transmigranten. "Für gut ausgebildete türkeistämmige Menschen kommt die Türkei als Arbeitsmarkt zusätzlich hinzu", sagt er. Wie andere Fachkräfte suchten auch hochqualifizierte Deutschtürken Jobs im Ausland. Das könnten die USA genauso sein wie die wirtschaftlich aufstrebende Türkei. Zwar seien die genauen Gründe einer zeitweisen oder dauerhaften Auswanderung nicht bekannt. Aber „Hartz-IV-Bezieher werden kaum auswandern“, vermutet Ulusoy.
Sollte es tatsächlich eine Auswanderungs-Tendenz von türkeistämmigen Fachkräften aus Deutschland geben, lägen die Gründe auf der Hand, sind sich Experten einig: Einwanderer würden in Deutschland benachteiligt, wie OECD-Studien wiederholt belegen. Für türkischsprachige Fachkräfte sei die Türkei mit einer seit Jahren stetig wachsenden Wirtschaft ein willkommener Arbeitsort.
"Für Deutschland ist das ein Verlust, vor allem wenn sie dauerhaft abwandern", sagt Gunilla Fincke vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels müsse Deutschland vor allem den jungen Menschen "das Signal geben, dass sie in Deutschland gebraucht werden". Heutzutage gehöre es zum Normalfall, in mehreren Ländern zu arbeiten. Aber dafür müssten "die Rahmenbedingungen geschaffen werden, wie die Möglichkeit zu längeren Auslandsaufenthalten ohne Verlust des Rechts auf Daueraufenthalt in Deutschland", sagt Fincke.
Türkei misst rund 30.000 mehr Einwanderer aus Deutschland
Bislang verwirken Ausländer ihre unbefristete Aufenthaltserlaubnis (Niederlassungserlaubnis), wenn sie sich länger im Ausland aufentahlten. Diesem Umstand ist es wohl geschuldet, dass die türkischen und deutschen Statistiker auf stark abweichende Zahlen kommen, wenn sie die Fortzüge aus Deutschland, bzw. die Zuzüge in die Türkei erfassen.
So wanderten im Jahr beispielsweise im Jahr 2000 laut amtlicher Bevölkerungsstatistik der Türkei 73.736 Menschen aus Deutschland in die Türkei ein. Im Migrationsbericht 2010 (BAMF) wird die Zahl von Fortzügen aus Deutschland in die Türkei für das selbe Jahr mit 40.263 angegeben. Diese große Differenz komme dadurch zustande, dass sich die Auswanderer bei den deutschen Behörden nicht abmelden, um ihr Rückkehrrecht nicht zu verlieren oder um ihre Versicherungs- und Rentenansprüche aufrechtzuerhalten, wie Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien und Dr. Yasar Aydin vom Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) übereinstimmend erklären.
Im Positionspapier "Diskurs um die Abwanderung Hochqualifizierter türkischer Herkunft in die Türkei" wertet Aydin die wenigen vorhandenen Studien und statistischen Daten aus. Sein Fazit: Es ist schwierig, verlässliche Aussagen über eine Abwanderungstendenz von Hochqualifizierten türkischer Herkunft zu treffen, da wissenschaftliche Studien genauso fehlten, wie eine statistische Erfassung von Daten zur Qualifikation der Auswanderer. Die bekannten Beispiele von hochqualifizierten Auswanderern seien Presseberichten entnommen, "wissenschaftliche Analysen liegen nicht vor".
Von Kemal Hür, 3. Januar 2013
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