Statistiken können bisweilen verwirrend sein. Im neuesten Migrationsbericht der Bundesregierung für das Jahr 2011 gibt es so eine. Hier werden auf Seite 208 die 16 Millionen „Menschen mit Migrationshintergrund“ nach Herkunftsländern aufgeschlüsselt. Die mit Abstand größte Zahl: 2,95 Millionen Türkeistämmige. Insider dürfte das verblüffen: Denn laut Bericht von 2010 lebten lediglich 2,48 Millionen Menschen in Deutschland, die aus der Türkei stammen.
Demnach stieg die Zahl der Türkischstämmigen innerhalb von einem Jahr um rund 20 Prozent. Zum Vergleich: Die Zahl der Türken in Deutschland, also der Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit, ist im selben Zeitraum um knapp 1,5 Prozent (22.000) gesunken.
Wie kann also eine ethnische Gruppe in zwölf Monaten um knapp eine halbe Million wachsen? Machen Türkischstämmige vielleicht gerade vor, wie man das Geburtenproblem löst?
Nein: Mit Geburten ist das Phänomen nicht zu erklären, hatten doch von den 2011 geborenen 660.000 Kindern gerade einmal 35.000 bis 40.000 Tausend Kinder ein oder zwei Elternteile mit türkischem Migrationshintergrund. Eingewandert sind die „neuen Türken“ auch nicht, schließlich kamen 2011 unterm Strich gerade einmal 700 Menschen aus der Türkei.
„Es handelt sich hierbei um 471.000 Kinder, die in Deutschland als Deutsche auf die Welt gekommen sind“, erklärt Günther Brückner, zuständiger Mitarbeiter im Statistischen Bundesamt. Bislang waren sie in der Statistik unsichtbar und wurden lediglich in der großen Gruppe von „Menschen mit Migrationshintergrund ohne Angabe zum Herkunftsland“ mitgezählt. Das hat sich nun geändert. „Kinder, deren Eltern beide den selben Migrationshintergrund haben, haben wir zum ersten Mal Herkunftsländern zugeordnet“, sagt Brückner.
Warum waren sie bislang unsichtbar?
Die neue Zahl ist Folge einer „strukturellen Verschiebung“, wie Brückner das nennt. Bislang wurden deutsche Kinder mit Migrationshintergrund nur dann einem Land zugeordnet, wenn ein Elternteil herkunftsdeutsch war. Wenn beide Eltern Ausländer oder Eingebürgerte sind, wird es nämlich kompliziert: Haben sie unterschiedliche Herkunftsländer, müssten Statistiker die Kinder willkürlich einem der beiden Länder zuordnen oder die Statistik durch Dopplung verzerren. Also blieben diese Kinder „ohne Angabe“. Und damit das für alle Kinder mit Einwanderereltern gleichermaßen gilt, wurden auch die vernachlässigt, deren Eltern den selben Migrationshintergrund haben. Sie tauchen in den Statistiken von 2011 zum ersten Mal als "Herkunftstürken" auf.
Mit der neuen Zählweise ist somit auch die Zahl der Herkunftspolen, - kasachen, -italiener etc. gestiegen. Allerdings längst nicht so markant, wie die der Türkischstämmigen.
Nach wie vor statistisch „blind“ sind Kinder, deren Elternhaus bikulturell ist, wie zum Beispiel türkisch-italienisch oder griechisch-polnisch. Dabei handle es sich jedoch nur um einige Zehntausend, so Brückner. Neben den bikulturellen Kindern gehen allerdings auch hunderttausende Aussiedler in der Statistik verloren. Mit den derzeitigen Analyse-Verfahren werden sie nicht erfasst.
Welche Konsequenzen hat das?
Die stark gestiegene Zahl der Türkischstämmigen verschiebt die Relationen. Waren bislang fast Zweidrittel von ihnen Einwanderer der ersten Generation, also mit eigener Migrationserfahrung, so sind es inzwischen nur noch die Hälfte. In anderen Worten: Rund die Hälfte der „Deutschtürken“ ist in Deutschland geboren.
Da es sich bei den statistisch neu Zugeteilten vor allem um Kinder und Jugendliche handelt, dürften sich damit auch die Bilanzen etwa bei Bildungserfolgen ändern, vermutlich positiv.
Und noch etwas macht sich bemerkbar: Der dramatische Anstieg der türkischstämmigen Bevölkerung durch einen kleinen statistischen Dreh zeigt, wie wenig Zahlen und Daten vermögen, die Wirklichkeit abzubilden. Gerade in der Gruppe der „Menschen mit Migrationshintergrund“ fallen immer noch mehrere Millionen unter „sonstige Herkunftsländer bzw. ohne Angaben“. Sie dienen höchstens der Aussage: Deutschland wird immer bunter. Dabei müsste die zweite Erkenntnis lauten: Es wird immer schwieriger, Menschen aus Einwandererfamilien einzelnen Herkunftsländern zuzuordnen. Die Zeiten, als Politik und Organisationen ihre Konzepte speziell auf Türken und Russen zuschneiden konnten, sind eigentlich vorbei.
Und vor allem: Die neue Zählweise lässt für Deutschtürken die Aussage zu, dass sie amtlich immer besser „integriert“ sind — so sehr, dass man sie kaum noch erfassen kann.
Von Ferda Ataman
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