Das bedrückendste an dem Medienecho, das Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" vor fünf Jahren auslöste, war vermutlich der Gestus des Tabubrechers. Er behauptete Missstände anzusprechen, die vor ihm noch keiner anzusprechen gewagt habe. „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, titelte die Bild-Zeitung auf dem Höhepunkt der Sarrazin-Debatte im September 2010 und verlieh der Mutter aller Stammtischparolen damit die Weihe einer angeblich unterdrückten Wahrheit.
Dabei war in den Jahren zuvor über kaum ein Thema ausführlicher und emotionaler debattiert worden als über die Integration von Muslimen und den Islam in Europa. Doch offenbar reichte das vielen noch nicht. Oder die politischen Konsequenzen aus diesen Debatten gingen ihnen noch nicht weit genug.
Neu an Sarrazin war nicht, dass er Einwanderer aus muslimischen Ländern pauschal zu den Alleinschuldigen für alle Probleme bei ihrer Integration abstempelte. Das hatten schon viele andere prominente Publizisten gemacht – von Henryk M. Broder über Alice Schwarzer und Necla Kelek bis Ralph Giordano – und damit viel Zuspruch erfahren. Neu an Sarrazin war, dass er für die angeblichen Defizite dieser Migranten nach einer biologischen, beziehungsweise rassistischen Begründung suchte und eine quasi-genetische Disposition für fehlenden Bildungsaufstieg von muslimischen Einwanderern wie auch der einheimischen Unterschicht verantwortlich machte. Die Thesen wurden inzwischen weitgehend widerlegt.
DANIEL BAX ist Redakteur im Inlandsressort der taz. Am 31. August erscheint sein Buch „Angst ums Abendland. Warum wir uns nicht vor Muslimen, sondern vor den Islamfeinden fürchten sollten“ im Westend-Verlag.
Während das gesamte politische Establishment bis hin zur CSU sich noch vor Veröffentlichung des Buches von Sarrazin distanzierte und die Kanzlerin sein Buch als „nicht hilfreich“ einstufte, boten viele Medien ihm bereitwillig ein Forum. Von konservativen und neokonservativen Publizisten wurde er gar zu einem „Märtyrer der Meinungsfreiheit“ verklärt. Unter dem Eindruck massenhafter Zustimmung, die sich in den unaufhörlich steigenden Verkaufszahlen seines Buches spiegelte, sah sich die Politik gezwungen, dieser Stimmung nachzugeben. Angela Merkel erklärte, Multikulti sei gescheitert, der CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer forderte eine deutsche "Leitkultur". Einer Verschärfung seiner grundsätzlichen Tendenz, Muslime zum Sündenbock zu stempeln, stimmten viele zu.
Sarrazin verliert Popularität, nicht aber seine Thesen
Die konkreten Forderungen, die Sarrazin in seinem Buch erhob, wurden dagegen kaum diskutiert und von niemandem aufgegriffen. Sie erschienen vielen in ihrer Radikalität wohl zu abwegig. „Die einzige sinnvolle Handlungsperspektive" könne nur sein, "weitere Zuwanderung aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Afrika generell zu unterbinden", forderte Sarrazin (S. 372) in seinem Buch. Am Besten sei es, legte er am Ende des Buches ziemlich unverblümt dar, die Zahl der muslimischen Migranten in Deutschland stark zu reduzieren und sie praktisch unsichtbar zu machen. Das deckt sich mit den Zielen von rechtspopulistischen Parteien in Europa wie dem Front National, der dänischen Volkspartei oder der Freiheitlichen Partei in Österreich.
Die Sarrazin-Debatte war eine Zäsur. Sie hat deutlich gemacht, dass es auch in Deutschland das Potential für eine rechtspopulistische Partei jenseits der Union gibt. Der Erfolg von "Deutschland schafft sich ab" hat der „Alternative für Deutschland“ (AfD) und Pegida zweifellos den Weg bereitet. Als Immer-noch-SPD-Mitglied hält Sarrazin sich offiziell auf Distanz, wird von der AfD aber immer wieder gerne als Stargast eingeladen.
In vielen Medien ist die Debatte um Integration und Islam dagegen seither sachlicher geworden. Viele Medienmacher sind wohl ehrlich darüber erschrocken, wie viel Hass im Kielwasser der Sarrazin-Debatte hochkam – wegen der vielen rassistischen Postings hatten viele ihre Kommentarfunktionen im Internet abstellen müssen. Auch das Massaker des norwegischen Rechtsterroristen Anders Breivik und das Bekanntwerden der NSU-Morde haben die Sensibilität dafür gefördert, dass diskriminierende Worte zu Gewalttaten führen können.
Mit seinem Buch über angeblichen „Tugendterror“ hat sich Sarrazin auch unter Wohlmeinenden manche Sympathien verscherzt. Dass ausgerechnet er, dem eine beispiellose Medienaufmerksamkeit zu Teil geworden war, sich darüber beklagte, von einer imaginierten Meinungsdiktatur der Gutmenschen und ihrer political correctness mundtot gemacht zu werden, wirkte etwas undankbar.
Die diskriminierenden Debatten um Islam und Integration dürften jedoch längst noch nicht an ihr Ende gekommen sein. Mit Forderungen nach einem Burka-Verbot und einem Islamgesetz nach österreichischem Vorbild, das die Finanzierung muslimischer Gemeinden aus dem Ausland verbietet, laufen sich manche Unionspolitiker bereits warm, um mit der AfD in einen Überbietungswettbewerb zu treten. Auch die Debatte um erwünschte und weniger erwünschte Einwanderer wird uns mit aller Wahrscheinlichkeit erhalten bleiben.
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