1999, ein Jahr bevor die sogenannte Dotcom-Blase platzte und die erste große Krise der IT-Branche ausbrach, skizzierten einige amerikanische Journalisten im „Cluetrail Manifesto“ die Zukunft der Online-Kommunikation. Dort hieß es: „Das Internet ist in den 90er Jahren ein Ort geworden, in dem Menschen miteinander ohne Beschränkungen sprechen können – ohne Filter, Zensur oder offizielle Sanktionierung.“ Doch das Idyll dauerte nicht lange. Noch im selben Jahr schrieben die Cluetrail-Autoren: "Heute haben wir es zumeist mit Flamers zu tun, also Leuten, die nichts anderes tun, als sich gegenseitig laut zu beschimpfen."
Schaut man in die Kommentar-Spalten einschlägiger Online-Medien, wird deutlich: Diese Tendenz hat in den letzten 15 Jahren deutlich zugenommen. Vor allem, wenn es um kontroverse Themen geht, entbrennt oft hemmungsloser Streit, in dem – hinter dem Schleier der Netz-Anonymität – auch menschenfeindliche Äußerungen zur Tagesordnung gehören. Bei Artikeln zu Migration, Integration, Asyl oder Islam steigt die Zahl der Kommentare bis in die Tausende. Nicht alle stehen für demokratische Werte.
„Der Islam ist die größte Bedrohung der westlichen Welt und wir sind so blöd und nehmen diese Menschen ohne Kontrolle auf“, schreibt zum Beispiel ein Nutzer zu einem Artikel von FOCUS-Online. Das Thema Jugendkriminalität wird bei Spiegel Online folgendermaßen kommentiert: „Jeder junge Mensch in Deutschland ist sich wohl darüber bewusst, dass junge Migranten den Ruf haben besonders gewalttätig und feige zu agieren.“
Meinungsfreiheit versus Inhaltsprüfung
Wann aber trifft Meinungsfreiheit auf das Recht, nicht diskriminiert zu werden? Und wie können und müssen Online-Zeitungen mit dieser Frage umgehen, die für die Qualität ihrer redaktionellen Inhalte steht?
Alle großen Medien mit Kommentarforen bemühen sich inzwischen darum, die Inhalte zu moderieren. Dabei liegt die Herausforderung darin, eine angemessene Balance zwischen Meinungsfreiheit und Inhaltsprüfung zu bewahren. Eine virtuelle Zeitreise durch das „Internet Archive“ zeigt, wie diese Grenze wiederholt verschoben wurde:
Bei den ersten Internet-Auftritten von deutschen Medien beschränkte sich die Interaktion zwischen Redaktion und Lesern auf Zuschriften per E-Mail. Fünf Jahre später hatten mehrere Online-Medien schon themenspezifische Foren eingeführt. Um das Jahr 2006 wurde dann den Nutzern die Möglichkeit gegeben, einzelne Artikel direkt zu kommentieren, was zu einem erheblichen Anstieg der Kommentar-Zahlen führte.
Das stellte die Redaktionen vor eine große Herausforderung: Wie kann man Kontrolle über die Inhalte behalten, die auf der Internetseite erscheinen, wenn täglich mehrere Tausend Kommentare eingehen? Fast alle etablierten Medien (Der Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt, Focus) haben sich inzwischen für eine Vormoderation der Kommentare entschieden. Nur Bild.de und Zeit Online veröffentlichen zunächst alle Kommentare und moderieren sie erst im Nachhinein.
Wie werden Kommentare von den Redaktionen moderiert?
Nicht immer handelt es sich um Kommentare von arglosen Bürgern, die spontan auf den gelesenen Artikel in ihrer Zeitung reagieren. "Hin und wieder lässt sich bei den Kommentaren eine politische Strategie erkennen", sagt Atila Altun, Leiter der Community- und Videoredaktion des Tagesspiegel. Deswegen habe die Arbeit in den Foren viel mit Erfahrungswerten zu tun. Altun und sein Team haben gelernt, koordinierte Angriffe zu erkennen: Wenn plötzlich eine Welle rassistischer Kommentare aufpoppt, besteht die Möglichkeit, dass ein Tagesspiegel-Artikel auf einem rechtsradikalen oder islamfeindlichen Blog verlinkt wurde – oft mit der klaren Aufforderung, die Seite mit Kommentaren zu überschwemmen.
Auch Altun und seine acht Mitarbeiter prüfen alle Kommentare, bevor sie veröffentlicht werden. „Die Vormoderation spart uns viel Arbeit: Zum Beispiel, wenn man verhindern will, dass politische Online-Aktivisten die gesamte Diskussion übernehmen“, so Altun. Besondere Aufmerksamkeit schenkt der Chef der Community-Redaktion auch den Links, die in den Kommentaren als Quelle angegeben werden. Führen diese zu Propaganda-Seiten, werden die Beiträge nicht veröffentlicht.
Politisch motivierte „Trolle“
Die Community-Redaktion bei Zeit Online hat sich anders entschieden: Hier erscheinen alle Kommentare ohne Prüfung und werden erst im Anschluss moderiert. Redaktionsleiterin Annika von Taube erklärt ihre Entscheidung für die Nachmoderation damit, dass für sie die Unmittelbarkeit des Dialogs im Zentrum stehe. „In einer mündlichen Debatte kann man einem Teilnehmer nicht den Mund verbieten, bevor er überhaupt etwas gesagt hat“, so von Taube.
Also müssen bei Zeit Online Kommentar-Moderatoren fast rund um die Uhr alle Kommentare, die von den Nutzern gepostet werden, lesen und – wenn nötig – kürzen oder löschen. Dafür sind bis zu drei Mitarbeiter im Einsatz. Pro Tag werden rund 3.000 Kommentare bearbeitet. Dabei folgen die Moderatoren den Regeln der Haus-Netiquette: propagandistische, rassistische, verfassungswidrige, homophobe, antisemitische, islamophobe oder menschenverachtende Kommentare werden grundsätzlich entfernt.
Bei besonders heiklen Themen sei man auf der Hut: „Wir versuchen die Diskussion von Anfang an so zu lenken, dass wenig Raum für aggressive Polemik oder Hetzerei übrig bleibt.“ Dabei spielen auch die "User" der Zeit Online-Community selbst eine zentrale Rolle: Seit einigen Jahren sei hier die Funktion „Kommentar als bedenklich melden“ aktiv. Damit können Nutzer der Redaktion Verstöße gegen die Netiquette melden.
Wer die Diskussion stören will, findet trotzdem einen Weg, selbst wenn er oder sie wiederholte Male schon von der Redaktion gesperrt wurde, sagt von Taube. Denn obwohl in allen Foren eine Registrierung erforderlich ist, können sich Störenfriede mit unterschiedlichen Namen und E-Mail-Adressen anmelden. Die Hartnäckigsten unter ihnen sind oftmals sogenannte „Trolle“, also Online-Kommentatoren, die das Ziel haben, mit besonders zugespitzten und mitunter menschenfeindlichen Kommentaren einen Streit zu provozieren.
Warum bestehen Redaktionen auf eine Kommentar-Funktion?
Kommentare zu moderieren verlangt daher Personal und Zeitaufwand. Warum halten die Redaktionen trotzdem an den kostenintensiven Foren fest? „Eine offene Diskussionskultur in den Foren stärkt die Akzeptanz der Leser für Meinungsvielfalt, da sie dort mit anderen – oftmals konkurrierenden – Meinungen konfrontiert werden", erklärt Community-Leiterin von Taube.
Natürlich gehe es auch um die Klicks, sagt Tagesspiegel-Moderator Altun. Denn wer an einer Diskussion teilnimmt, kehrt immer wieder auf die Seite zurück. "In erster Linie geht es allerdings um den Austausch mit den Nutzern: Wir bekommen viele Anregungen aus der Community und tragen diese auch in die Redaktionskonferenzen", so Altun. Dennoch rücken derzeit einige Medien wieder von der Foren-Kultur ab. Bei Spiegel Online findet sich die Kommentar-Funktion nur bei bestimmten Artikeln. Die Webseite der Süddeutschen Zeitung hat sie vor wenigen Monaten sogar gänzlich abgeschaltet. Wo das hinführen könnte, zeigt das experimentelle Journalismus-Projekt Krautreporter: Dort müssen Nutzer etwas zahlen, um an Diskussionen teilnehmen zu dürfen.
Von Ferda Ataman und Fabio Ghelli
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.