"Der neue Tugendterror – Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland", heißt das neue Buch von Thilo Sarrazin. Anlass für das neue Werk sei gewesen, dass ein Spiegel-Redakteur ihn falsch wiedergegeben hätte. Der hatte in einem Interview einen Einwanderer gefragt: "Trifft es Sie, wenn Politiker wie Thilo Sarrazin behaupten, Migranten seien faul und hätten ohnehin kein Interesse, dieses Land mitzugestalten?" Sarrazin habe an die Redaktion geschrieben und gegen die zugespitzte Zusammenfassung seiner Aussagen protestiert – ohne Erfolg. Diese Geschichte, so heißt es in der Einleitung, habe ihm bewiesen, dass in Deutschland "die freie Betrachtung der menschlichen Gesellschaft in vorgefasste Raster" gepresst wird.
Bis heute wehrt sich Sarrazin ausdrücklich gegen den Vorwurf, seine Thesen seien rassistisch. Er habe in "Deutschland schafft sich ab" lediglich unbequeme Wahrheiten ausgesprochen. Und nach besagter Auseinandersetzung mit dem Spiegel fühle er sich nun verpflichtet, öffentlich gegen die "Verengung und Kartellierung der Meinungsbildung in Deutschland" anzutreten, die er während der Debatte um sein erstes Buch zu spüren bekam. Auf der Buchklappe ist die Rede von "Denk- und Redeverboten". Die Kernthese des neuen Sarrazin-Buches: Es dürfe nicht gesagt werden, was nicht gesagt werden darf. Oder in seinen Worten: "die prägende Kraft vorherrschender Meinungen verhindert, dass wichtige Fragen in ihrer ganzen Breite wahrgenommen und deshalb auch in der Breite analysiert und beantwortet werden" (S. 16).
Wer diese Fragen verhindert, ist für den Autor eindeutig: Die Medien und die Politik. Denn die Medien seien in Deutschland "die Verwalter der politischen Korrektheit", schreibt er auf Seite 46, mit "der politischen Klasse als großenteils willfährigem Resonanzboden".
23 Interviews, acht Stunden im Fernsehen
Betrachtet man den Verlauf der Debatte nach Erscheinen von "Deutschland schafft sich ab", haben ihm die Medien – die nach Sarrazins Meinung einen „moralischen Scheiterhaufen“ für alle Andersdenkende errichten – 2010 vielmehr die Bühne verschafft, auf der der Berliner Ex-Finanzsenator rund 1,5 Millionen Mal sein Buch verkaufen konnte.
Eine Recherche zu seinen Medienauftritten ergibt:
- Zwischen August 2010 und März 2012 konnte Sarrazin in mindestens 23 Wortlautinterviews mit zwölf unterschiedlichen Printmedien seine kontroversen Thesen ausführlich darstellen und verteidigen. Einige dieser Printmedien, wie "Die Zeit", die "Frankfurter Rundschau" und "die tageszeitung", werden von Sarrazin im neuen Buch trotzdem als Vertreter des Medienkonformismus angeprangert.
- Mindestens elf Mal kam Sarrazin in TV-Sendungen und Talkshows zu Wort. Insgesamt war er in dieser Zeit acht Stunden im Fernsehen zu sehen und kam dabei mindestens 120 Minuten lang zu Wort.
Sarrazins Inszenierung als Opfer von "Denk- und Redeverboten" fußt auf folgenden Argumenten:
- Bestimmte Medien hätten "krasse Falschbehauptungen" über seine Thesen ständig wiederholt, die er in seinen Interviews nicht ausführlich genug richtigstellen konnte. Schuld daran seien die Journalisten, die "nicht selber lesen, sondern das übernehmen, was sie woanders gelesen oder gehört haben" (S. 81). Ebenso wenig würden auch Politiker dicke Bücher lesen (S. 51). So wäre es keine Überraschung, dass in der mehr als ein Jahr währenden Debatte niemand "sachliche Einwände von Gewicht" (S. 55) gegen seine Thesen hätte vorbringen können.
- Die "konstant falsche Wiedergabe" seiner Aussagen in den Medien sei laut Sarrazin "die Rache der Düpierten, die hofften, auf Dauer doch die Oberhand zu erlangen" (S. 73).
- Während zahlreiche Wissenschaftler sein Buch gelobt hätten (S. 60), hätte man "förmlich das kollektive Zähneknirschen der Medienklasse" gehört (S. 71). Dass mehrere Wissenschaftler, unter anderen auch einige, auf die sich Sarrazin beruft, ihm widersprachen, wird im Buch nicht erwähnt.
Sarrazins Iszenierung als Widerstandskämpfer
Die "Reaktion des breiten Publikums" damals habe gezeigt, "dass die Deutungsmacht der Medien und des von ihnen verordneten Mainstream-Denkens durch einen Einzelnen durchbrochen werden kann", so Sarrazin auf Seite 73. Der Autor sieht sich als einsamen Widerstandskämpfer, der das Publikum im Kampf gegen die Mediendiktatur anführt.
So würden sich nach Ansicht des Autors in der deutschen Gesellschaft zwei Gestalten gegenüber stehen. Auf der einen Seite: "der typische Medienkonsument, der Süddeutsche Zeitung, Zeit und Spiegel liest". Auf der anderen: der Sarrazin-Leser, der exemplarisch durch eine Leserin aus Gera vorgestellt wird, die sich darüber Gedanken mache, wozu Globalisierung gut sei, "wenn Kulturen verloren gehen, Deutschland sich mehr und mehr verschuldet, die Menschen vergreisen und nur Wenige im Lande gut genug gebildet sind, um eine Wirtschaft zu führen und zu entwickeln."
Schließlich empört sich Sarrazin darüber, dass sein 2012 erschienenes Buch „Europa braucht den Euro nicht“ von der "Medienklasse" nicht genug beachtet wurde. Wie beim ersten Buch hätten auch hier die Fachleute eher Lob geäußert. Doch Medien wie die "Süddeutsche Zeitung", die "Frankfurter Rundschau", "Spiegel" oder "Stern" hätten "nach anfänglicher Polemik" den Versuch unternommen, "das Buch totzuschweigen" (S. 56).
Tatsächlich finden sich zum Euro-Buch lediglich fünf Interviews und ebenso viele Fernsehauftritte. Die Verkaufszahlen lagen etwa bei einem Zehntel von "Deutschland schafft sich ab". Vom neuen Buch verspricht sich der DVA-Verlag offenbar wieder mehr: Vor der Veröffentlichung wurde eine Startauflage von 100.000 Exemplaren angekündigt.
Von Fabio Ghelli
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