Wie gelingt Integration? Kurz gefasst lautet meine Antwort: Wenn alle Beteiligten sie zu ihrem Projekt machen. Integration als Projekt für alle – diese Perspektive ist vor allem für die Längeransässigen, die ich die "alten Deutschen" nenne, ungewohnt. Auch sie müssen sich in die Einwanderungssituation integrieren. Entscheidend ist, dass dafür Strukturen geschaffen werden. Die Frage der Kulturen, die in der öffentlichen Debatte häufig als zentral angesehen wird, ist meines Erachtens nachgeordnet. Es wird vielmehr darauf ankommen, wie viel Geld in das Bildungssystem fließt, in Sprachkurse, in Integrationskurse, in die Professionalisierung von Lehrern im Umgang mit Mehrsprachigkeit und in die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft.
Auch bei der Berichterstattung über das Einwanderungsland Deutschland gibt es Reformbedarf. Über Gewalt und Tragödien wird berichtet – der normale Alltag ist nicht der Erwähnung wert. Wenn immer nur über Ungewöhnliches berichtet wird, wird das für das Gewöhnliche gehalten. Dieser mediale Mechanismus hat blinde Flecken – um nicht zu sagen: blinde Flächen – zur Folge. Denn es gibt in Deutschland längst auch eine migrantische Mittelschicht: Filialleiterinnen im Einzelhandel mit marokkanischen Wurzeln, türkeistämmige Kommissare, Abteilungsleiter aus einer polnischen Einwandererfamilie oder iranische Chefärztinnen.
Integrationserfolge und -hindernisse
Laut Statistischem Bundesamt hat unter der Bevölkerung mit Migrationshintergrund 2015 nahezu jeder Dritte (30 Prozent) Abitur oder Fachhochschulreife. Bei den Personen ohne Migrationshintergrund liegt die Abiturquote mit 28,5 Prozent leicht darunter. Im Jahr 2014 hatten 10 Prozent aller Einwohner mit Migrationshintergrund keinen Schulabschluss. Das heißt eben auch, dass 90 Prozent einen Schulabschluss hatten. Man sollte genau sie mehr danach fragen, ob und wie sie in Deutschland klarkommen und auf welche Weise viele von ihnen den sozialen Aufstieg geschafft oder ihren mitgebrachten Status erhalten haben.
Prof. Dr. ANNETTE TREIBEL ist Soziologin am "Institut für Transdisziplinäre Sozialwissen-schaft" der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Sie ist Mitglied im "Rat für Migration" (RfM) und befasst sich unter anderem mit den Themen Migration, Soziologische Theorien und Geschlechterforschung.
Andere Einwanderer haben das nicht geschafft, sondern sich frustriert zurückgezogen oder auch feindselig oder abweisend in der Fremde eingerichtet. Eine wichtige Rolle hierbei spielen die Bildungsferne, die Rückkehrillusion („Wir gehen ja doch zurück, was sollen wir Deutsch lernen?“) oder die Einschätzung, dass es einem mit Nicht-Integration besser geht. Salopp ausgedrückt: Bevor man in der Aufnahmegesellschaft ein Niemand ist, stellt man lieber in der Einwanderercommunity etwas dar.
Auf Seiten der Aufnahmegesellschaft war das Rumdrucksen, dass Deutschland ja kein Einwanderungsland sei, eine erhebliche Hürde für die Integration der Einheimischen in die neue gesellschaftliche Verfasstheit. Denn das war mit dem Signal verbunden, dass die Anwesenheit von Ausländern und Migranten eine vorübergehende Sache sei und sich grundsätzlich an und in Deutschland nichts ändere.
Das Integrationsparadox
Die zu Deutschen gewordenen Einwanderer werden von vielen der länger im Land ansässigen Deutschen nicht auf Augenhöhe angesprochen. Viele wollen nicht, dass Deutsche Boateng oder Özoğuz heißen. Eigentlich wollen sie auch gar nicht, dass Einwanderer sich wirklich integrieren – denn dann sind sie gar nicht mehr wirklich als Ausländer identifizierbar. Dieses Phänomen bezeichne ich als Integrationsparadox: Wenn Einwanderer sich integrieren, ist es auch wieder nicht recht.
Manchmal werde ich gefragt, ob die Integration scheitern kann. Als Soziologin sage ich dann: Ich sehe nicht, dass Integration insgesamt scheitern kann. Es können Menschen scheitern, wenn es ihnen nicht gelingt, in einer Gesellschaft Fuß zu fassen. Das kann daran liegen, dass sie krank, drogenabhängig oder perspektivlos sind oder der Arbeitsmarkt für Menschen mit ihren Qualifikationen nicht genügend Möglichkeiten bietet. Dieses Problem stellt sich jedoch unabhängig von der ethnischen oder nationalen Herkunft.
In ihrem Buch "Integriert Euch!" analysiert die Soziologin Annette Treibel aktuelle Integrations-debatten und plädiert für einen Perspektiv-wechsel: Integration sei ein "Projekt für alle", an dem Einwanderer und Aufnahme-gesellschaft gleichermaßen beteiligt sind. Das Buch ist im September 2015 beim Campus Verlag erschienen.
Ob Integration gelungen oder misslungen ist, können die Beteiligten außerdem durchaus unterschiedlich bewerten. So könnten etwa Russlanddeutsche von außen gesehen als nicht integriert gelten, weil sie überproportional häufig untereinander heiraten. Diese Homogamie, wie man es wissenschaftlich nennt, muss sie selbst aber nicht darin hindern, sich in Deutschland integriert zu fühlen – ganz im Gegenteil.
Integration im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist dort bedroht, wo Teilgruppen Gewalt ausüben. Ich sehe hier eine Gemeinsamkeit zwischen islamistischen und neonazistischen Terrorgruppen: Beide sind Feinde der Integration und des gesellschaftlichen Pluralismus.
Was steht aktuell an?
Den aktuellen Herausforderungen durch die Flüchtlingszuwanderung kann man besser begegnen, wenn man sich bewusst macht, dass Deutschland nicht bei null steht. Es gibt Abertausende von Menschen, die in den letzten Jahrzehnten Kompetenzen im Hinblick auf Integration erworben haben: in Schulen, Krankenhäusern oder Ämtern, im Einzelhandel oder in Sportvereinen. Die öffentliche Polarisierung zwischen Überfremdung einerseits und Bereicherung andererseits trifft die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht.
In der alltäglichen Integrationsarbeit, die Menschen in beruflichen, privaten und öffentlichen Begegnungen verrichten, finden die meisten von ihnen einen konstruktiven Umgang miteinander. Dabei wird häufig spürbar: Integration war und ist keine Kuschelveranstaltung. Aber soziologisch gesehen wirken Konflikte – wenn sie denn friedlich ausgetragen werden – integrativ.
Vielleicht würden Integrationskurse für alle helfen – und ein Leitbild als Einwanderungsland, wie es der Rat für Migration schon längere Zeit fordert. Dabei gilt es die neuen Deutschen als Verbündete zu gewinnen. Der erste Schritt hierzu ist, sie als Einheimische zu betrachten. Einheimische, das sind Menschen, die mit den Gegebenheiten in einer Region oder einem Land vertraut sind. Und das sind ganz viele, auch wenn sie unterschiedlich aussehen oder unterschiedlich auf dieses Land sehen. Wie sagte der Comedian Bülent Ceylan zu Beginn dieses Jahres: „Ich werde ja auch manchmal gefragt: Bist du Türke oder Flüchtling? Darauf sage ich nur: Ich bin Monnemer [= Mannheimer], du Depp!"
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