Ein oberflächlicher Blick auf Theorie und Empirie scheint die These zu bestätigen: Die zunehmende Arbeitsmobilität wirkt sich positiv auf den Euroraum aus. Dennoch sind Vorbehalte angebracht: Die Beurteilung von Arbeitsmobilität kann nicht unabhängig von den sonstigen Rahmenbedingungen einer Währungsunion ausfallen. So unterscheiden sich die Regeln und Institutionen der Euro-Region zum Beispiel deutlich von denen des US-amerikanischen Dollarraums.
Die Arbeitsmobilität innerhalb der Europäischen Union ist deutlich geringer als in der US-amerikanischen Währungsunion. Während 2010 in den USA fast jeder Dritte (27 Prozent) nicht in dem Bundesstaat lebte, in dem er oder sie geboren war, lebten gerade einmal knapp drei Prozent der EU-Bürger nicht in ihrem Geburtsland. Vor der Krise, im Jahr 2008, wanderten in den USA 1,5 Prozent der Bevölkerung zwischen den Bundesstaaten. Innerhalb der EU-Staaten migrierten nach Angaben des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration lediglich 0,3 Prozent der Unionsbürger.
Doch auch die EU-Binnenmobilität erfuhr bis zum Ausbruch der Schuldenkrise einen deutlichen Anstieg. Die Zahl der Unionsbürger, die nicht mehr in ihrem Geburtsland leben, wuchs zwischen 2003 und 2010 von 7,7 auf 12,8 Millionen. 44,3 Prozent dieses Zuwachses ging auf Bulgaren und Rumänen und weitere 32,8 Prozent auf Staatsbürger der Länder zurück, die 2004 der EU beitraten. Die Schuldenkrise hat durchaus Arbeitsmobilität in Gang gesetzt, aber es war die bereits zuvor hochmobile Bevölkerung aus den osteuropäischen Staaten, die einen guten Teil der Wanderung ausmachte.
Nach der Krise: Zuwandererzahl in Deutschland hat sich verdoppelt
Deutschland ist der einzige Kernstaat Europas, in dem sich seit Ausbruch der Schuldenkrise eine – sogar sehr deutliche – Zunahme der Einwanderung beobachten lässt. Die Zahl der Zuwanderer erhöhte sich von 574.000 im Jahr 2008 auf 966.000 im Jahr 2012. Die Krise hatte dabei zwei Effekte auf die Wanderungsbewegungen nach Deutschland: Zum einen wanderten Staatsbürger der besonders betroffenen Staaten zu, zum zweiten wurden Migrationsströme aus den neuen EU-Mitgliedstaaten nach Deutschland umgeleitet.
Betrachtet man nur die Zahl der Arbeitsmigranten, lässt sich zwischen 2010 und 2013 eine prozentual deutliche, in absoluten Zahlen aber überschaubare Zunahme von in Deutschland beschäftigten Staatsbürgern der Krisenstaaten feststellen. Ein im Verhältnis dazu weit größerer Zuwachs an Beschäftigung lässt sich bei Staatsbürgern der osteuropäischen Staaten (plus 104 Prozent) und Rumänien und Bulgarien (plus 97 Prozent) beobachten. Einfluss hatte neben dem Kriseneffekt jedoch auch, dass im Mai 2011 die in Deutschland noch bestehenden Zuwanderungsbeschränkungen für Bürger der osteuropäischen EU-Beitrittsländer ausliefen.
Die Arbeitsmigranten genießen wenig Sicherheit
Diese Entwicklung könnte darauf hindeuten, dass sich innerhalb der EU eine Gruppe sehr mobiler Arbeitsmigranten herausbildet, die sensitiv auf die wirtschaftliche Situation in den verschiedenen Staaten reagiert. Das kann in makroökonomischer Perspektive einerseits positiv gesehen werden, für die Migranten selbst geht mit ihrem Status allerdings ein relativ geringer sozialer Schutz einher. So war beispielsweise die Massenabwanderung von Osteuropäern aus Spanien keineswegs rein freiwillig: Diese Gruppe war schlicht als erste von der einbrechenden Wirtschaftsleistung betroffen und genoss die geringsten sozialen Ansprüche.
Ein Blick auf die Struktur von Arbeitsmigranten aus den südeuropäischen Krisenstaaten zeigt, dass sie zu einem überwiegenden Anteil gut ausgebildet und unter 35 Jahre alt sind. Das weit über dem Durchschnitt deutscher Staatsbürger liegende Ausbildungsniveau der zugewanderten Spanier, Griechen, Portugiesen und Italiener bestätigt diesen Eindruck. So positiv diese Zuwanderung aus deutscher Sicht auch zu bewerten sein mag, aus gesamteuropäischer Sicht wird für die Zukunft entscheidend sein, ob der Verlust an Humankapital in den Krisenstaaten nur zur kurzfristigen Abmilderung von Arbeitsmarkt-Ungleichgewichten dient oder eine dauerhafte Schwächung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zur Folge hat.
Arbeitsmobilität könnte auf Lasten der Krisenstaaten gehen
Über die Frage, ob den Krisenstaaten mit einer deutlichen Zunahme der Emigration gedient wäre, kann jedoch letztlich nur spekuliert werden. Solange die Abwanderung kurzfristig ist und der Entlastungseffekt des Arbeitsmarktes überwiegt, wird die Wirkung überwiegend positiv sein. Bei einer permanenten Abwanderung insbesondere der jungen und gut ausgebildeten Bevölkerung besteht aber die Gefahr eines Überhangs negativer Effekte.
Arbeitsmigration bietet insbesondere für die Migranten selbst große Chancen und kann zum Zusammenwachsen Europas beitragen. Doch in der Währungsunion fehlen derzeit noch gemeinsame Anpassungsmechanismen, die den regional unterschiedlichen Schocks entgegenwirken können. Gäbe es diese Mechanismen und eine mit den USA vergleichbare Währungsunion, wäre die Binnenmobilität mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für die Krisenstaaten kein wesentliches Problem. Unter den heutigen Bedingungen könnte die Arbeitsmobilität nach Deutschland jedoch auf Dauer zu deren Lasten gehen.
Eine ausführliche Version dieses Artikels finden Sie im kürzlich erschienenen Buch "Migration und Arbeit in Europa" unter dem Titel "EU-Binnenmobilität in einer unvollkommenen Währungsunion". Dr. Andreas Mayert arbeitet am Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD in Hannover und am Lehrstuhl für Sozialpolitik und Sozialökonomie der Ruhr-Universität Bochum. Seine Schwerpunkte sind Sozial- und Wirtschaftspolitik und "ökonomische Theorie sozialer Normen".
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