Der befürchtete Ansturm von Rumänen und Bulgaren auf das deutsche Sozialsystem blieb auch nach Einführung der vollen Freizügigkeit aus. Allerdings gäbe es einige Städte, in denen es zu einer besorgniserregenden Konzentration hilfsbedürftiger Zuwanderer aus den so genannten EU-2-Ländern gekommen sei. Das war die Kernbotschaft von Bundesinnenminister Thomas de Maizière und Arbeitsministerin Andrea Nahles bei der Vorstellung des Zwischenberichts des Staatsekretärs-Ausschusses zu „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten“.
Schätzungen des Staatsekretärs-Ausschusses zufolge wird sich die Zahl der Neuzuwanderer aus Rumänien und Bulgarien im Laufe des Jahres verdoppeln. Der Ausschuss geht davon aus, dass viele von ihnen voraussichtlich den bisherigen Wanderungsbewegungen folgen und sich in Städten wie Offenbach, Duisburg, Frankfurt am Main, Hamburg, Dortmund, München oder Mannheim niederlassen werden. In diesen Städten war der Anstieg von Sozialleistungsempfängern unter den EU-2-Einwanderern am höchsten.Quelle
Pläne der Bundesregierung
Zwar stellen Bulgaren und Rumänen nur ungefähr 0,7 Prozent aller Leistungsempfänger in Deutschland, so Nahles und de Maizière. Dies sei allerdings kein Grund, das Problem kleinzureden. Das Kabinett plane deshalb einige Maßnahmen, um dem Notstand in den Brennpunkten entgegenzuwirken.
Zum einen sollen die Kommunen, in denen sich viele hilfsbedürftige Zuwanderer konzentrieren, 200 Millionen Euro in sieben Jahren erhalten. Zum anderen sollen strengere Regeln eingeführt werden, um "Sozialmissbrauch" zu verhindern.
Konkret plant die Bundesregierung etwa:
- ein befristetes Wiedereinreiseverbot bei Missbrauchsfällen,
- eine Verschärfung der Regeln für die Inanspruchnahme von Kindergeld,
- eine strengere Kontrolle bei Gewerbeanmeldungen, um Scheinselbstständigkeit zu vermeiden,
- eine Einschränkung der Zeit, über die arbeitslose EU-Bürger verfügen, um in Deutschland eine Arbeit zu suchen.
Die Kommunen zeigen sich zufrieden. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung begrüßte Städtetags-Präsident Ulrich Maly, dass „Bund, Länder und Kommunen die mit Armutszuwanderung verbundenen Probleme gemeinschaftlich anpacken.“ In einem Beitrag beim Mediendienst hatte Maly betont, dass es mehr Maßnahmen für eine gelungene Integration vor Ort bräuchte, jedoch keine Einschränkungen der Freizügigkeitsrechte.
Neuzuwanderer nach wie vor gebraucht
Die Schärfe der angekündigten Gesetzesänderungen überrascht. Der Ziwschenbericht bestätigt, dass die Einführung der vollen Freizügigkeit für die südosteuropäischen Mitgliedstaaten zu keinem Ansturm auf die deutschen Sozialkassen geführt hat. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) unterstreicht in einem aktuellen Kurzbericht vielmehr, dass Deutschland nach wie vor auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen sei. Ohne Neuzuwanderung würde es in diesem Jahr 290.000 Arbeiter weniger geben, die hierzulande gebraucht werden. Dabei spielen Zuwanderer aus Ost- und Südosteuropa eine entscheidende Rolle.
Auch die Integrationsministerkonferenz, die vergangene Woche in Magdeburg tagte, setzt sich für mehr Arbeitsmigration ein. In einer Pressemitteilung betonten die zuständigen Minister, Deutschland müsse „deutlich attraktiver für qualifizierte Zuwanderung“ werden. Einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) zufolge zählen Rumänen und Bulgaren eindeutig zu dieser „qualifizierten Zuwanderung“: Mit 24,5 Prozent hat fast jeder vierte Einwanderer aus diesen Ländern einen Hochschulabschluss. In der Gesamtbevölkerung Deutschlands sind nur knapp 19 Prozent Akademiker.
Auch die OECD veröffentlichte im vergangenen Januar eine Studie über die Neuzuwanderung im EU-Raum. Danach liegt der Anteil der Hochqualifizierten unter den Bulgaren und Rumänen bei etwa 20 Prozent. Der überwiegende Anteil von ihnen (62 Prozent) ist in Beschäftigung – etwas weniger als bei den Zuwanderern aus anderen osteuropäischen Staaten, im Vergleich zu anderen Einwanderergruppen jedoch deutlich über dem Schnitt.
Die alte Angst vor den "Sozialtouristen"
Woher stammt also die Angst vor dem systematischen Missbrauch der Sozialsysteme? Neu ist sie jedenfalls nicht. Dr. Benjamin Elsner vom Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) sieht in der heutigen Debatte eine Wiederholung der Diskussion, die der Osterweiterung der EU im Jahre 2004 voranging. Schon damals sprachen viele über die Gefahren der Freizügigkeit für das deutsche Sozialsystem. Dieselben Experten, die heute von einer bedrohenden "Migrationswelle" sprechen, warnten damals vor den "Scharen von Gastarbeitern und Armutsflüchtlingen", die gen Westen drängten.
Am ersten Mai werden es genau zehn Jahre sein, seit die EU die Grenzen zum ehemaligen Ostblock abbaute. Vor allem Deutschland blickte mit Skepsis zu den östlichen Nachbarn. „Die Bundesrepublik war zu diesem Zeitpunkt von einer hohen Arbeitslosigkeit geplagt“, sagt Elsner. „In dieser erhitzten Situation gab es eine große Unsicherheit darüber, wie viele Zuwanderer aus dem Osten nach Deutschland kommen würden. Die einen sagten null, die anderen bis zu fünf Millionen. Vor allem fürchteten die Deutschen sowohl einen negativen Einfluss der billigen Arbeitskraft auf den Lohnspiegel als auch einen Ansturm auf das Sozialsystem.“
Aufgrund dieser weit verbreiteten Verunsicherung führte Deutschland Übergangsregelungen ein, die den Zugang ausländischer Arbeitskräfte zum deutschen Arbeitsmarkt erschweren sollten. „Im Nachhinein können wir sagen, dass Deutschland damit eine große Chance verpasste, gut qualifizierte Arbeitskräfte ins Land zu holen“, sagt Elsner. Wegen dieser Hürden gingen die Neuzuwanderer lieber nach Großbritannien und Irland, wo sie dazu beitrugen, den Arbeitsmarkt zu beleben und die Inflation zu senken.
Verspielt Deutschland eine Chance?
Schaut man sich die derzeitige Debatte über die "Armutsmigration" aus Rumänien und Bulgarien an, scheint sich dieses Muster zu wiederholen. „Wenn man heute über Einwanderung aus Tschechien oder Polen spricht, spricht niemand mehr von 'Armutsmigration'. Warum besteht diese Angst gegenüber den Rumänen und den Bulgaren?“, fragt Elsner.
Der Bonner Wirtschaftswissenschaftler hat den Einfluss der Zuwanderung aus Osteuropa auf den deutschen Arbeitsmarkt in den letzten zehn Jahren analyisiert. Das Ergebnis: Im Durchschnitt haben Neuzuwanderer ein Jahr mehr schulische Bildung als Deutsche im selben Alter. Dabei ist ihr Einkommen um 40 Prozent niedriger. Hätte Deutschland seinen Arbeitsmarkt früher den ausländischen Arbeitskräften geöffnet, gäbe es hierzulande mehr junge, gut gebildete Arbeitnehmer, so Elsner. Dies gilt auch für die neue Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien. Als die Bundesrepublik 2012 die Zugangsbedingungen für bulgarische und rumänische Akademiker erleichterte, nahm die Zahl der Neuzuwanderer deutlich zu.
Der Annahme einer Einwanderung in die Sozialsysteme steht auch entgegen, dass viele Zuwanderer gezwungenermaßen nach Deutschland kamen. "Die Neuzuwanderer gehen dorthin, wo es Arbeit gibt“, erklärt Elsner. So sind bis zum Ausbruch der Eurokrise die meisten Rumänen nach Italien oder Spanien gewandert. Aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit verloren die zwei Länder allerdings stark an Attraktivität: Während die Zahl der rumänischen Einwanderer in Deutschland zwischen 2007 und 2011 auf etwa 95.000 kletterte, ging sie in Spanien um 140.000 zurück.
Weitere Informationen, Zahlen und Fakten erhalten Sie in unserem Dossier Armutsmigration.
Von Fabio Ghelli
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