Bis Anfang der 1980er Jahre war kaum bekannt, dass auch Sinti und Roma von den Nationalsozialisten systematisch verfolgt und ermordet wurden. Nach 1945 lebten die rassistischen Denkmuster in staatlichen Institutionen wie Polizei, Justiz und Gesundheitswesen fort. Eine "Wiedergutmachung" für die Verfolgung der Minderheit durch die Nationalsozialisten wurde immer wieder verhindert. So hatte der Bundesgerichtshof 1956 ein Urteil gefällt: Für die Verfolgung der Sinti und Roma seien zumindest bis 1943 nicht "rassenideologische Gesichtspunkte" sondern die "asozialen Eigenschaften der Zigeuner" maßgebend gewesen, "die auch schon früher Anlaß gegeben" hätten, "die Angehörigen dieses Volkes besonderen Beschränkungen zu unterwerfen".Quelle
Zudem hielten Polizei und Justiz Akten unter Verschluss, die zum Nachweis einer Verfolgung notwendig gewesen wären. Auch wurden viele deutsche Sinti und Roma in den 50er und 60er Jahren ausgebürgert oder die deutsche Staatsbürgerschaft, die ihnen von den Nationalsozialisten entzogen worden war, wurde ihnen nicht zurückgegeben. Auf diese Weise blieben ihnen etliche Bürgerrechte verwehrt, auch das auf Entschädigung.Quelle
Besonders drastisch war die Situation in Bayern: Die Kriminalpolizei und insbesondere die sogenannte "Landfahrerordnung" schränkten wesentliche Grundrechte der Sinti und Roma ein. Die Verordnung stammte aus der Weimarer Republik, wo sie sich auf "Zigeuner" bezog, bestand auch in der Zeit des NS-Regimes weiter und wurde in der Nachkriegszeit durch die "Landfahrerordnung" ersetzt. Sie schränkte unter anderem die Bewegungsfreiheit von Sinti und Roma innerhalb Bayerns ein. Bei der Münchener Kriminalpolizei gab es eine "Landfahrerzentrale", in der vormals als "Zigeuner" und nun als sogenannte "Landfahrer" eingestufte Personen mit Bildern und Fingerabdrücken erfasst wurden, teilweise sogar anhand von Akten, die zum Teil noch aus des Nationalsozialismus stammten. In Bundesländern wie Hamburg und Nordrhein-Westfalen gab es ähnliche polizeiliche Einrichtungen, die Angehörige der Minderheiten systematisch kriminalisierten.Quelle
Anstoß für die Bürgerrechtsbewegung
Vor diesem Hintergrund bildete sich eine Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma, die sich aber erst Ende der 70er Jahre öffentlich gegen die Verdrängung des NS-Völkermords und die Diskriminierungen zur Wehr setzte. Vor 35 Jahren kam es zu einer Aktion, die dafür einen Meilenstein darstellt und auch international Beachtung fand:
Die ehemaligen KZ-Häftlinge Franz Wirbel, Jakob Bamberger und Hans Braun hatten die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten überlebt. Am 4. April 1980 traten sie gemeinsam mit neun weiteren Sinti auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau in Bayern in einen Hungerstreik. Zu den Initiatoren und Mitstreikenden gehörte auch Romani Rose, der heutige Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Dreizehn Verwandte von Rose waren während des Nationalsozialismus ermordet worden.
Daniela Gress ist als Historikerin im Arbeitsbereich Minderheiten-geschichte und Bürgerrechte in Europa an der Universität Heidelberg tätig. Für ihre Masterarbeit wurde sie vom Integrationsministerium Baden-Württemberg ausgezeichnet. Sie ist Stipendiatin der Manfred Lautenschläger-Stiftung und promoviert zur Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma in Deutschland.
Nach einigen Tagen waren die Hungerstreikenden am Rande eines körperlichen Zusammenbruchs, betonten jedoch ihren unbedingten Durchhaltewillen. Am 11. April 1980 kam es schließlich im bayerischen Innenministerium und durch die Vermittlung der evangelischen Kirche zu Verhandlungen über die Forderungen der Hungerstreikenden. Nach einer siebenstündigen Diskussion wurde ein Konsens gefunden, der zur Beendigung des Hungerstreiks führte. Die bayerische Regierung räumte öffentlich ein, dass Vorurteile und Diskriminierungen abgebaut werden müssten. Für die Bürgerrechtler bedeutete dieses Ergebnis immerhin einen Teilerfolg. Zwar wurden ihre konkreten Forderungen, wie etwa die diskriminierende Tätigkeit der bayerischen "Landfahrerzentrale" politisch zu verurteilen, nicht erfüllt. Doch die bayerische Regierung zeigte sich hinsichtlich der Diskriminierungssituation einsichtig, indem sie Politik, Öffentlichkeit und Gesellschaft dazu aufrief, einen Beitrag zur Toleranz und gegenseitigen Verständigung gegenüber Sinti und Roma zu leisten.
Zudem löste der Hungerstreik eine breite öffentliche Solidaritätswelle aus. Etwa 100 in- und ausländische Journalisten berichteten täglich von den Ereignissen in Dachau. Viele Bürger unterstützten die Streikenden. In Dachau, München und Hamburg wurden Sympathie-Demonstrationen organisiert. Weitere Unterstützung folgte von Vertretern der SPD, FDP und der Grünen und Persönlichkeiten wie dem späteren Papst Kardinal Joseph Ratzinger, Heinrich Böll, Rudolf Augstein, Wolf Biermann, Daniel Cohn-Bendit, Yehudi Menuhin und Yul Brunner. Zum offiziellen Abschluss des Hungerstreiks empfingen die Bürgerrechtler am 12. April 1980 Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel in Dachau. Er sagte ihnen Unterstützung zu und bezeichnete die Protestaktion als einen „ganz wichtigen Anstoß" zum Abbau von Vorurteilen.
Aus dieser Protestbewegung heraus gründete sich 1982 der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma mit Sitz in Heidelberg. Dadurch wurde eine politische Vertretung geschaffen, die von der Bundesregierung als politischer Gesprächspartner akzeptiert wurde. Wenig später erkannte Bundeskanzler Helmut Schmidt den NS-Völkermord an den Sinti und Roma in Deutschland erstmals offiziell an. Trotz weiterer Erfolge der Bürgerrechtsbewegung sind Vorurteile gegenüber Sinti und Roma jedoch weiterhin weit verbreitet. Heute erinnert der Hungerstreik in Dachau vor allem daran, dass sich Sinti und Roma ihre Rechte in der Bundesrepublik selbst erkämpfen mussten. Zudem zeigt er, dass die Integration von Minderheiten oft das Ergebnis von Aushandlungsprozessen um eine gleichberechtigte Teilhabe darstellt.
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