Judentum
Die jüdische Minderheit in Deutschland ist vielfältig: Sowohl ethnisch als auch kulturell und religiös. Nach der Schoa lebten nur noch wenige Juden in Deutschland. In 1990er Jahren wuchsen die Gemeinden durch den Zuzug von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, von rund 30.000 auf über 100.000 Mitglieder.
Jüdische Bevölkerung in Deutschland
Die jüdische Gesamtbevölkerung in Deutschland wurde 2021 auf etwa 225.000 Personen geschätzt. Nach Frankreich und Großbritannien handelt es sich damit um die drittgrößte Community in Europa. Diese Zahl beinhaltet alle Menschen, die in der weitesten Definition als Jüdinnen und Juden gelten.Quelle
Laut der Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland (ZWST) waren 2022 bundesweit rund 91.000 Mitglieder in 105 jüdischen Gemeinden organisiert. Die größten Gemeinden befinden sich in Berlin, München und Frankfurt. Hinzu kommen 26 Gemeinden, die der "Union progressiver Juden in Deutschland" angehören. Deren Mitgliederzahl liegt zwischen 5.000 und 6.000.Quelle
Seit 2007 ist die Mitgliederzahl jüdischer Gemeinden leicht rückläufig. Zur Entwicklung in den liberal-progressiven Gemeinden liegen keine Daten vor. Der Rückgang der Mitglieder liegt unter anderem daran, dass kaum noch Jüdinnen und Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion einwandern. Ein weiterer Grund ist der demographische Wandel: Knapp die Hälfte der Gemeindemitglieder waren 2021 über 60 Jahre alt.Quelle
2020 veröffentlichte der Zentralrat der Juden ein "Gemeindebarometer". Die nicht-repräsentative Umfrage unter rund 2.700 Jüdinnen und Juden in Deutschland fragte etwa, wie oft sie den Gottesdienst besuchen oder was sie von der Gemeindesteuer halten. 23 Prozent der Befragten, die auch Mitglied in einer Gemeinde sind, sind dort ehrenamtlich aktiv, ein Großteil fühlt sich in den Gemeinden willkommen (78 Prozent). Fast ebenso viele wünschen sich aber ansprechendere Angebote in den Gemeinden (76 Prozent).Quelle
Zentralrat der Juden und andere Organisationen
Eine einheitliche jüdische Organisation wurde erst kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 mit dem "Zentralausschuss der deutschen Juden für Hilfe und Aufbau" gegründet. Ihr erster Präsident war der Rabbiner Leo Baeck. 1950 formierte sich der "Zentralrat der Juden in Deutschland" (ZJD).Quelle
Der Zentralrat ist neben den großen christlichen Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. Dieser Status ist mit besonderen Privilegien verbunden. Im Zentralrat sind verschiedene Gemeinden organisiert, deren Ausrichtung von streng orthodoxen, reformorientierten und konservativen bis zu liberalen Gemeinden reicht. Der Zentralrat hat den Anspruch, die religiösen Interessen aller Juden in Deutschland zu vertreten.
Neben dem Zentralrat hat sich 1997 die "Union progressiver Juden" (UPJ) gegründet, die ebenfalls eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist. Sie vereint liberale und progressive Gemeinden. Darüber hinaus ist in Deutschland die orthodoxe Organisation "Chabad Lubawitsch" aktiv.
Ausrichtungen im Judentum
Grundsätzlich unterscheidet man im Judentum zwischen drei Ausrichtungen: dem orthodoxen, dem progressiven (beziehungsweise liberalen oder reformorientierten) und dem konservativen Judentum. Der Hauptunterschied besteht in der Herangehensweise an die Quellen und ihrem Verständnis.
Im Verständnis des orthodoxen Judentums ist die Thora das direkt offenbarte Wort Gottes. Das progressive Judentum versteht die Offenbarung hingegen als von Gott ausgehenden, aber durch Menschen vermittelten und damit dynamischen und progressiven Prozess. Das konservative Judentum wiederum will die Traditionen bewahren, sieht Veränderungen aber als notwendig an – sofern sie mit den religiösen Gesetzen vereinbar sind.Quelle
Das liberale Judentum enstand vor allem im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts als Alternative zum orthodoxen Judentum. Bis zum Holocaust hatte es sich zur vorherrschenden Glaubensrichtung entwickelt. Nach dem 2. Weltkrieg gewann mit der Gründung des "Zentralrats der Juden in Deutschland" (ZDJ) das orthodoxe Judentum an Bedeutung und ist heute die einflussreichste Auslegung in der Bundesrepublik.
Durch die Unterstützung nicht-orthodoxer Weltverbände und die Einwanderung von Juden aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion seit Beginn der 1990er Jahre steigt die Zahl nicht-orthodoxer Gemeinden wieder. Diese werden vor allem durch die 1997 gegründete "Union progressiver Juden in Deutschland" (UPJ) vertreten.
Jüdische Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion
Zwischen 1993 und 2022 wanderten rund 220.000 Jüdinnen und Juden einschließlich ihrer Partner*innen und Kinder aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland ein. Die meisten von ihnen waren sogenannte Kontingentflüchtlinge und zogen bis 2004 zu. Danach kamen immer weniger Jüdinnen und Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nach Deutschland, 2022 waren es 590 Personen.Quelle
Dass weniger Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion zuwandern, liegt unter anderem an einer Reform des Zuwanderungsgesetzes 2005. Im Gegensatz zu den 1990er Jahren benötigen potenzielle Einwanderinnen und Einwanderer heute Deutschkenntnisse und eine positive "Integrationsprognose". Zudem müssen Antragstellende nachweisen, dass sie in eine jüdische Gemeinde aufgenommen werden können.Quelle
Bis 2004 konnten Jüdinnen und Juden aus Nachfolgestaaten der Sowjetunion als "Kontingentflüchtlinge" leichter einwandern als andere Migrant*innen. Festgelegte Kontingente gab es jedoch nicht. Russischsprachige Jüdinnen und Juden zogen ab 1990 zunächst in die DDR der Wendezeit und kamen ab 1991 in die Bundesrepublik.Quelle
Um einzuwandern, mussten Jüdinnen und Juden in den deutschen Botschaften in ihren Herkunftsländern um Einreiseerlaubnis ersuchen. Dafür mussten sie ihre jüdische Identität nachweisen. Die deutschen Vertretungen richteten sich nach dem Hinweis "Volkszugehörigkeit" in sowjetischen Geburtsurkunden und Pässen. Es spielte keine Rolle, ob jemand gläubig oder Gemeindemitglied war. Lagen entsprechende Nachweise vor, wurden die Anträge grundsätzlich bewilligt. Die Einwanderinnen und Einwanderer bekamen eine unbefristete Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis.Quelle
Altersarmut jüdischer Kontingentflüchtlinge
Zwischen 65.000 bis 70.000 jüdische Kontingentflüchtlinge sind von Altersarmutbetroffen, schätzt die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). Das entspreche rund 93 Prozent aller jüdischen Zuwanderer*innen im Rentenalter. Zum Vergleich: Rund 2,6 Prozent der deutschen Rentner*innen waren 2021 auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen, unter ausländischen Rentner*innen waren es 17,5 Prozent.Quelle
Härtefallfonds als Ausgleich
Um die Altersarmut unter jüdischen Kontingentflüchtlingen abzumildern, hat die Bundesregierung 2022 einen Härtefallfonds beschlossen und 2023 eine Stiftung dafür eingerichtet. Anspruchsberechtigte Personen sollen aus dem Fonds eine einmalige, nicht steuerpflichtige Zahlung erhalten. Der Fonds gilt nicht nur für jüdische Kontingentflüchtlinge, sondern auch für Spätaussiedler*innen und Härtefälle unter DDR-Rentner*innen.
Berechtigte erhalten 2.500 Euro von den Bundesmitteln, und weitere 2.500 Euro, falls ihr Bundesland der Stiftung beitritt. Nur fünf Bundesländer sind beigetreten: Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg, Thüringen Bremen und Berlin. Die ZWST forderte eine Auszahlung von 10.000 Euro pro Person. Das würde bei einer Rentendauer von 20 Jahren einem Ausgleich von 41,66 Euro pro Monat entsprechen. Auch der Bund hatte zunächst mehr Geld für den Fonds vorgesehen.Quelle
Anspruchsberechtigte konnten bis Ende Januar 2024 einen Antrag stellen. 52.700 jüdische Kontingentflüchtlinge haben das gemacht. Somit hat vermutlich ein Großteil der Betroffenen einen Antrag gestellt – die ZWST ging von rund 65.000 bis 70.000 jüdischen Kontingentflüchtlingen aus, die von Altersarmut betroffen sind. Bisher wurden 10.113 Anträge bewilligt, 1.960 abgelehnt (Stand März 2024).Quelle
Warum sind so viele jüdische Zuwanderer*innen von Altersarmut betroffen?
Das hat mehrere Gründe: Jüdische Kontingentflüchtlinge haben keinen Zugang zum Fremdrentenrecht, welches unter anderem für Spätaussiedler*innen gilt – und es gibt kaum Sozialversicherungsabkommen mit Nachfolgestaaten der Sowjetunion, aus denen sie zugewandert sind. Deswegen können sie ihre Arbeitsjahre dort nicht für die Altersversorgung in Deutschland anrechnen lassen. In Deutschland konnten sie wiederum kaum Rentenansprüche erwerben, da sie oft in prekären Jobs beschäftigt waren – trotz akademischer Abschlüsse. Eine stichprobenartige Befragung der ZWST ergab, dass rund 69 Prozent der jüdischen Zugewanderten, die vor 1954 geboren wurden, über einen akademischen Abschluss verfügten. Von 78 Prozent wurde der Abschluss nicht anerkannt.Quelle
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