Seit der militärischen Intervention Israels in Gaza gibt es auch in Deutschland heftige Proteste. Die Berichte dazu waren oft von Bildern geprägt, die Menschen mit Migrationshintergrund zeigen, manche von ihnen mit antisemitischen Plakaten in der Hand. Ungeachtet dessen, dass auch Herkunftsdeutsche an denselben Demonstrationen – und zwar mit ähnlichen Plakaten – teilnahmen, wurde der Eindruck vermittelt, der Anti-Israel Protest gehe maßgeblich von Muslimen aus, die einen sogenannten Migrationshintergrund haben.
Einige Beobachter folgerten daraus, dass die begleitenden Ausbrüche von Antisemitismus womöglich ein Produkt der Einwanderungsgesellschaft seien. Die Vertreter dieser These bezogen sich dabei auf die Tatsache, dass vor allem im arabischen Ausland antisemitische Propaganda produziert werde, die in den hiesigen Einwanderergemeinschaften Verbreitung findet.
Prof. Dr. ANDREAS ZICK ist Konflikt- und Gewaltforscher. Seit April 2013 leitet er das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld, das unter anderem eine Langzeitstudie zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit durchführte. (Foto: dpa)
Dazu gilt es festzuhalten: Moderne Formen des Antisemitismus – vor allem wenn sie in Verbindung mit Israelkritik vorkommen – werden in der sogenannten Mitte der Gesellschaft massiv geteilt. Deshalb stellt sich die Frage, ob dieser derzeit beobachtete Antisemitismus eher durch ausländische Propaganda beeinflusst wurde oder ob er an Einstellungen in der hiesigen Gesellschaft anknüpft. Wie von der Forschung vielfach belegt, geht Migration meistens mit Akkulturation einher, also der Annahme und Veränderung von kulturellen Elementen. Dazu gehören auch Vorurteile. Das heißt, dass Menschen, die nach Deutschland ziehen, sich auch die Vorurteile aneignen, die es im Land gibt.
Antisemitismus hat wenig mit Migration zu tun
So belegen die Studien der Universität Bielefeld zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, dass es keine gravierenden Unterschiede zwischen den antisemitischen Vorurteilen von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund gibt, sofern sie nicht extremistisch orientiert sind. In diesem Sinn kann Antisemitismus paradoxerweise ein „Integrationseffekt“ sein, denn Integration kann auch über das Lernen von Vorurteilen erfolgen, weil diese Zugehörigkeit und Identität befriedigen.
An unserem Institut haben Jürgen Mansel und Viktoria Spaiser sehr umfangreich Jugendliche mit Migrationshintergrund in Bezug auf ihre Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit befragt. Mit Blick auf muslimische Jugendliche zeigte sich dabei sehr deutlich: Antisemitische Vorurteile haben weder mit Migrationserfahrungen noch mit der familiären Erziehung zu tun.
Wenn Jugendliche antisemitische Vorurteile aufweisen, dann sind diese oftmals mit Benachteiligungsgefühlen und –erfahrungen verbunden. Sie verbinden (meist unbewusst) ihre eigenen Erfahrungen von Diskriminierung und Abwertung mit dem Leid von Muslimen weltweit (Sinnbild Palästinenser – Muslime als Opfer). Daraus entsteht ein Gefühl einer weltweit gedemütigten Schicksalsgemeinschaft.
Sensibilisierung statt Pauschalisierung
Das kann aber auch anders herum funktionieren: So können Einwanderer durch die eigene Migrationserfahrung eine stärkere Empathie gegenüber anderen Minderheiten wie den Juden in Europa entwickeln. Wie eine Umfrage der Wochenzeitung "Die Zeit" vor vier Jahren zeigte, sehen junge deutsch-türkische Menschen die Schuldgefühle und Verpflichtungen, die aus dem Holocaust erwachsen, als Bestandteil ihrer Identität an.
Die Forschung zeigt auch: Nicht selten stammen antisemitische Vorurteile und Verschwörungstheorien aus ganz spezifischen Milieus, wie zum Beispiel extremistischen religiösen Gruppen, die Menschenfeindlichkeit predigen. Antisemitismus taucht in Gruppen auf, die durch die Abwertung des Judentums Zugehörigkeit und Zusammenhalt erschaffen und dadurch ihre Dominanz behaupten wollen.
Es wird nun wieder viel gefragt, was zu tun sei, wenn Antisemitismus in muslimischen Gruppen vorzufinden ist. Hierbei wird schnell übersehen, wie viele Initiativen es schon gibt, die eine stärkere Sensibilität gegen Antisemitismus zu verbreiten versuchen – gerade in der islamischen Community. Sie gilt es zu stärken und, wie vielfach auch geschehen, nach ihren Erfahrungen zu fragen. Wenig hilfreich ist dagegen die reflexartige pauschale Unterstellung, Muslime hätten eine neue antisemitische Gesinnung in unser Land gebracht.
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