Mediendienst: Sie arbeiten mit Jugendlichen aus Einwandererfamilien zusammen und engagieren sich gegen Antisemitismus. Ist der Gaza-Konflikt dabei ein Thema?
Inan Witte: Die Situation im Nahen Osten spielt bei unseren Projekten in Schulen immer eine wichtige Rolle. Jetzt, wo der Konflikt wieder eskaliert, ist er Thema Nummer eins in sozialen Medien, und das nicht nur auf Webseiten von politischen Organisationen. Selbst auf Internetseiten, auf denen sonst über Fußball diskutiert wird, kann man anti-israelische Kommentare lesen.
Welchen Bezug haben muslimische Jugendliche zum Nahost-Konflikt?
Das ist sehr unterschiedlich. Wir arbeiten in Berliner Bezirken mit Klassen, in denen die meisten Schüler einen türkischen oder arabischen Migrationshintergrund haben. Viele hier empfinden die Gründung Israels als Ungerechtigkeit. Manche der Eltern sind selbst aus dem Libanon oder aus Gaza geflohen. Oder sie haben Familienangehörige verloren. Da ist es schwer, eine differenzierte Sicht zu entwickeln.
Hat sich die Stimmung mit dem aktuellen Gaza-Konflikt verändert?
Ich beobachte die Situation in den sozialen Netzwerken Twitter, Facebook und Instagram. Hier ist bekannt, dass jeder alles posten kann. Viele haben Fake-Accounts, das heißt, sie äußern sich nicht unter ihrem eigenen Namen. Dennoch fällt auf, dass antisemitische Aussagen zum aktuellen Gaza-Konflikt eine Dimension angenommen haben, die ich so noch nicht erlebt habe. Beim Libanon-Krieg 2006 war ich 16 Jahre alt und habe gesehen, wie damals die Hetze gegen Israel und Juden gestiegen ist. Jetzt ist sie ähnlich stark. Zum Glück gibt es jedoch auch positive Beispiele: In vielen Kommentaren wird zwar der Hetze zugestimmt – aber es gibt auch User mit türkischen oder arabischen Namen, die sich klar gegen diesen Antisemitismus wenden.
Wie sehen die antisemitischen Inhalte in den sozialen Medien aus?
Die Aussagen sind sehr einseitig und fast immer vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. Israel wird dämonisiert und die Hamas als Gruppe von Freiheitskämpfern verharmlost. Es herrscht ein Schwarz-Weiß-Denken, das den historischen Kontext völlig außer Acht lässt. Erschreckend sind nicht nur die Veröffentlichungen selbst, sondern auch die Kommentare dazu: Jemand fordert, Israel auszulöschen, und 500 andere stimmen dem zu und bestärken die Forderung noch.
Ist das ein neuer Antisemitismus?
Nein, im Moment sind diese Äußerungen nur sichtbarer als sonst, aber die Stereotype sind dieselben wie immer. Es geht um die „jüdische Weltverschwörung“, den „Kindermörder Israel“ und Verschwörungstheorien gegen die USA, man spricht von „US-rael“. Neu ist, dass Menschen mitdiskutieren, die sich vorher nicht für das Thema interessiert haben. Ich war erschrocken, wie unreflektiert sich einige meiner politisch gemäßigten Freunde äußern, die studieren oder bei anderen Themen sehr differenziert argumentieren.
Die Türkische Gemeinde Deutschland (TGD) fordert eine Überprüfung der Inhalte und ein Verbot von Hitler-Verherrlichungen. Was sagen Sie dazu?
Es gibt Posts, die finde ich nicht tragbar. Deswegen finde ich es wichtig, dass die Türkische Gemeinde Deutschland darauf aufmerksam macht. Wenn es um Volksverhetzung geht, muss das gemeldet werden.
Was kann man gegen antisemitische Äußerungen in sozialen Netzwerken tun?
Man kann die Kommentare oder Seiten bei den Betreibern der jeweiligen Plattform melden. Das hilft allerdings auf Dauer nicht viel, weil meist sofort eine neue Seite aufgemacht wird. Vor allem ist es wichtig, dass wir das Problem an sich erkennen und Aufklärungsarbeit leisten. Deswegen verstehe ich die Äußerung der TGD als ein Wachrütteln.
Wie gehen Sie in Ihrer Arbeit mit dem Thema um?
Ich begleite die Schüler als „Peer-Leader“, weil ich nicht viel älter bin und ähnlich wie sie aufgewachsen bin. Mit 16 war ich auch eine Zeit lang von fundamentalistischen Parolen beeindruckt. So kann man ins Gespräch kommen und den Jugendlichen die Chance geben, andere und differenziertere Meinungen kennenzulernen. Deswegen bieten wir Projekttage zu ausgewählten Themen in der Schule an und schaffen einen „schulfreien Raum“, in dem man ohne Notendruck oder Prüfungsangst reden und aufklären kann. Das ist wichtig, weil viele Jugendliche im Freundes- oder Familienkreis immer wieder auf Halbwissen treffen.
Inan Nafiz Doğan Witte studiert Geschichts- und Kulturwissenschaften des Vorderen Orients mit dem Schwerpunkt Turkologie und arbeitet im Bundestag im Besucherdienst. Seit 2011 ist er als "Peer-Leader" in der "Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus" (Kiga) aktiv und arbeitet in Workshops mit Schülern.
Interview: Jenny Lindner
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