Der Bundesinnenminister hat im April 2015 zum ersten Mal zu einer Fachkonferenz über Migration eingeladen. „Zuwanderung nach Deutschland – Einwanderungsland Bundesrepublik?“ lautete der Titel und wurde eröffnet mit einem Panel, bei dem unter anderem Soziologieprofessor Ruud Koopmans über fundamentalistische Einstellungen unter Muslimen sprach. Sein Fazit: Islamischer religiöser Fundamentalismus sei unter Europas Muslimen und auch in Deutschland "weit verbreitet". Zwei Drittel der Muslime hielten religiöse Gesetze für wichtiger als die Gesetze des Landes, in dem sie leben. Drei Viertel von ihnen fänden, es gebe nur eine mögliche Auslegung des Korans.
Die Ergebnisse stammen aus einer Studie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Eine Definition von "Fundamentalismus" bietet der Autor Koopmans in einem WZB-Artikel zur Untersuchung: "Der Begriff geht auf eine protestantische Erneuerungsbewegung in den USA zu Anfang des 20. Jahrhunderts zurück, die die Rückkehr zu den Fundamenten des christlichen Glaubens durch die strikte Befolgung und die wörtliche Interpretation der Regeln der Bibel propagierte." Viele Untersuchungen hätten gezeigt, dass dieser Fundamentalismus stark mit Vorurteilen und Feindseligkeit gegenüber "anderen" verbunden sei. Bislang wisse man jedoch sehr wenig darüber, wie viele Muslime in westlichen Ländern so denken.
Diese Lücke wollte die WZB-Studie schließen. In der Pressemitteilung von Dezember 2013 heißt es: "Fast 60 Prozent der befragten Muslime lehnten Homosexuelle als Freunde ab, 45 Prozent denken, dass man Juden nicht trauen kann, und ebenso viele glauben, dass der Westen den Islam zerstören will. Die entsprechenden Werte unter christlichen Befragten im Vergleich: Immerhin neun Prozent sind offen antisemitisch, 13 Prozent wollen keine homosexuellen Freunde, und 23 Prozent glauben, dass die Muslime die westliche Kultur zerstören wollen."
Anfangs hat die Studie in Deutschland medial keine besonders große Aufmerksamkeit hervorgerufen. Es gab vereinzelt Berichterstattung. Auch auf antimuslimischen Blogs wurden die Zahlen verbreitet. Ende 2014 wurden die besorgniserregenden Aussagen über Muslime allerdings in der ARD-Sendung "Menschen bei Maischberger" präsentiert. Thema der Talk-Runde: "Angst vor Gotteskriegern. Bedroht dieser Islam auch uns?" Ab der 29. Minute wurde die WZB-Studie ausführlich zitiert und die Ergebnisse eingeblendet. Der damit in der Runde konfrontierte Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, tat sich schwer, darauf zu reagieren.
Woher stammen die Ergebnisse? Für die Studie „Six Country Immigrant Integration Comparative Survey“ (SCIICS) wurden rund 9.000 Menschen in sechs Ländern telefonisch befragt: Österreich, Belgien, Frankreich, Deutschland, Niederlande und Schweden. Bei den Ergebnissen des SCIIC-Surveys gilt jedoch zu berücksichtigen: Sie sind nicht repräsentativ und können keine allgemeinen Aussagen über "die Muslime" treffen – obwohl in der Pressemitteilung von einer "repräsentativen Befragung" und von "auffallend hohen Werten unter Europas Muslimen" die Rede ist.
Warum ist die Studie nicht repräsentativ für Muslime?
Für "die Muslime" kann die Untersuchung aus verschiedenen Gründen nicht stehen:
- Die Befragungen fanden nicht unter allen muslimischen Einwanderergruppen statt: In den untersuchten Ländern wurden ausschließlich Menschen befragt, die aus Marokko (ca. 2.200 Personen) oder der Türkei (ca. 3.400) stammen. Für Deutschland waren das 489 Türkeistämmige und 479 Marokkostämmige. "Die Einschränkung wurde vorgenommen, um die Daten aus verschiedenen Ländern besser vergleichbar zu machen", erklärt Koopmans dem MEDIENDIENST. "Die Rekrutierungsmuster [ausländischer Arbeitnehmer] in den verschiedenen Ländern waren während der Gastarbeiterzeit ziemlich vergleichbar, während sie sich in späteren Phasen stark unterschieden."
- Deswegen wurden ausschließlich Personen befragt, die selbst, deren Eltern oder Großeltern vor 1975 eingewandert waren. In der Stichprobe fehlen also all diejenigen, die zum Beispiel als Selbstständige, per Ehegattenzuzug, zum Studium oder zur Unternehmensgründung nach 1975 nach Deutschland kamen.
- Die Hälfte aller befragten Türkeistämmigen wurde zudem ausschließlich aus bestimmten Regionen in Zentral- und Ostanatolien ausgewählt, die damals ohne ausreichend Infrastruktur und extrem ländlich waren und es teilweise noch sind. Gleiches gilt für die befragten Einwanderer aus Marokko.
Aufgrund dieser Einschränkungen ist die Studie auch nicht repräsentativ für Einwanderer aus Marokko und der Türkei. Der Vergleich mit der Gegengruppe ("einheimische Christen") ist zudem methodisch fragwürdig: Nur „muslimische Einwanderer“ wurden nach den oben genannten Kriterien ausgewählt – die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund wurde solchen Einschränkungen nicht unterzogen. Hier werden also die Einstellungen von muslimischen Gastarbeitern und ihren Nachkommen mit denen aller Deutschen ohne Migrationshintergrund verglichen.
Die Unterscheidung zwischen "muslimischen Einwanderern" und "einheimischen Christen" suggeriert zudem, dass Muslime nicht zu den Einheimischen zählen.
Internationale Kritik am "alarmistischen Ton"
Das kritisierte auch Cas Mudde, Politikwissenschaftler an der "University of Georgia" (USA), in einem Gastbeitrag für die Washington Post. Denn anders als in Deutschland gab es im Ausland heftige Debatten über die Ergebnisse. Mudde schrieb beispielsweise, dass vor allem ein Ergebnis der Untersuchung fragwürdig erscheine: 70 Prozent der "einheimischen" Befragten hätten angegeben, Christen zu sein. Diese Zahl sei außergewöhnlich hoch für die überwiegend säkularen Länder. Andere Studien kämen, selbst bei offenen Definitionen von "Christlichsein", zu deutlich geringeren Werten. Mudde geht davon aus, dass eine strengere Auslegung von "einheimischen Christen" zu einem kleineren Abstand gegenüber Muslimen in den Einstellungen führen würde.
Auch Erik Voeten, ebenfalls Politikprofessor an der Georgetown Universität in Washington, schrieb dazu in der Washington Post: Zwar sei die Umfrage professionell gemacht und komme von einem angesehenen Wissenschaftler, doch sie sei "prädestiniert für mediale Aufmerksamkeit und als Beleg für politische Parteien mit extremen Ansichten, wie Geert Wilders’ PVV in den Niederlanden". Deswegen hätte sich Voeten gewünscht, dass eine "sensible Publikation wie diese" mit "ein bißchen mehr Informationen" ausgestattet wäre. So seien beispielsweise keine länderspezifischen Erklärungen zu den Fragen zu finden.
Der Arabist und niederländische Publizist Jan-Jaap de Ruiter kritisierte in einem Gastkommentar in der Zeitung "Trouw" den "alarmistischen Ton" und die entsprechende Rahmung ("frame") der WZB-Studie. Verglichen mit anderen internationalen Untersuchungen zu Einstellungen lasse sich erkennen, dass Muslime zunächst einmal "keine Ausnahme in Europa darstellen, wo viele einheimische Bevölkerungen mit Judenfeindlichkeit, Homophobie und allen Arten von undemokratischen Tendenzen zu kämpfen haben". Nichts desto trotz zeige die Untersuchung, so de Ruiter, dass noch viel zu tun sei, um fundamentalistischen Einstellungen unter Muslimen in Europa entgegenzutreten. Das Thema dürfe auch nicht unterschätzt werden.
Diese Aussage ist auch dem Studienautor Ruud Koopmans wichtig.
Im April 2015 sprach der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders bei einer Pegida-Kundgebung in Dresden und nutzte die Ergebnisse der WZB-Studie, um erneut vor der "Islamisierung Europas" zu warnen. Koopmans distanzierte sich davon in einem Fakten-Check bei "Spiegel Online": "Nur eine Minderheit der deutschen Muslime hat fundamentalistische Einstellungen", erklärte er diesmal überraschenderweise, "aber es ist eine große Minderheit." Man dürfe die Probleme keineswegs kleinreden.
Von Ferda Ataman
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