Nach dem schweren Erdbeben im Südosten der Türkei und im Nordwesten Syriens hat die Bundesregierung ein vereinfachtes Visaverfahren für Betroffene aus den Erdbebenregionen, die Angehörige in Deutschland haben, eingeführt. Auch einzelne Bundesländer wie etwa Berlin und Schleswig-Holstein haben angekündigt, Visaanträge aus der Region prioritär zu bearbeiten.
Personen aus Syrien und der Türkei, die ihre Verwandten aus den betroffenen Regionen nach Deutschland holen möchten, haben zwei Optionen:
- Sie können ein Visum zum Zweck der Familienzusammenführung beantragen. Das gilt ausschließlich für Ehepartner*innen, Kinder und (im Fall von Minderjährigen) Eltern. Die Anträge von Personen aus Erdbebengebieten werden prioritär bearbeitet. Auch soll dabei von den bestehenden Voraussetzungen zur Familienzusammenführung wie etwa Sprachkenntnissen oder einem ausreichenden Lebensunterhalt weitestgehend abgesehen werden. Personen, die mit einem Visum zur Familienzusammenführung nach Deutschland kommen, können eine Aufenthaltserlaubnis beantragen.
- Türkische Staatsbürger*innen aus den betroffenen Gebieten können für drei Monate zu Angehörigen ersten und zweiten Grades (Ehepartner/-partnerin, Eltern, Kinder, Großeltern, Enkelkinder, Geschwister) nach Deutschland ziehen. Dafür müssen sie ein sogenanntes Schengen-Visum beantragen. Ihre Familienmitglieder in Deutschland müssen dafür eine "Verpflichtungserklärung" abgeben. Das heißt: Sie müssen sich verpflichten, für alle Lebensunterhaltkosten inklusive Wohnraum und medizinischer Versorgung aufzukommen.
Zum Stichtag 28. Februar wurden 733 dreimonatige Visa nach dem vereinfachten Verfahren an türkische Staatsbürger*innen ausgestellt. 159 Personen haben ein Visum zum Zweck der Familienzusammenführung erhalten – ungefähr die Hälfte von ihnen kommt aus Syrien.
Für Syrer*innen ist die Reise nahezu unmöglich
Die Initiative der Bundesregierung wird von Vertreter*innen der türkischen, kurdischen und syrischen Verbände in Deutschland begrüßt. Sie betonen allerdings, dass die Vergabe der Visa nach wie vor an sehr strenge – und in vielen Fällen nahezu unmögliche – Bedingungen geknüpft ist.
Türkische Staatsangehörige klagen, dass die Initiative nur eine kurzfristige Lösung anbietet: Wenn Angehörige aus den Erdbebengebieten mit einem Schengen-Visum nach Deutschland kommen, müssen sie nach drei Monaten wieder in die Region zurückkehren. Viele ihrer Verwandten in Deutschland sind zudem wegen der finanziellen Risiken einer Verpflichtungserklärung besorgt: Sie wüssten nicht, ob und wie lange sie die Kosten für den Lebensunterhalt der Betroffenen tragen können, teilte ein Mitarbeiter des Beratungsteams der kurdischen Organisation Yekmal e.V. mit.
Auch sind für das Visum Dokumente nötig, die oftmals in den Trümmern der zerstörten Häusern vergraben sind, sagt Cahit Basar von der "Kurdischen Gemeinde Deutschland". Selbst wenn die Bearbeitung der Visaanträge nur fünf Tage dauert, sei es deshalb oftmals unmöglich, die notwendigen Dokumente zeitnah zu besorgen.
Für syrische Staatsbürger*innen sind die Hürden noch größer, sagt Svenja Borgschulte von der syrischen Organisation "Adopt a Revolution". Der Nordwesten Syriens ist eins der wenigen Gebiete, die nicht unter der Kontrolle der syrischen Regierung von Baschar al-Assad stehen. Da es nur in Ausnahmefällen möglich ist, die türkische Grenze zu überqueren, müssten die Personen aus der Region in den Libanon oder nach Jordanien reisen, um ein Visum zu beantragen. "Das ist aber faktisch unmöglich", sagt Borgschulte. "Nicht nur ist die Reise sehr lang, sie führt auch durch Gebiete, die von der Assad-Armee kontrolliert werden."
Für syrische Geflüchtete in der Türkei ist es in der Regel sehr schwierig, ein Visum zu beantragen, so Borgschulte: Die meisten von ihnen haben keine Dokumente. Sie würden außerdem verstärkt unter Diskriminierung leiden und hätten nur bedingt Zugang zu Hilfsprogrammen und Notunterkünften. Einige von ihnen seien deshalb gezwungen gewesen, zurück nach Syrien zu gehen.
Wichtige Informationsstellen:
- Informationsverbund Asyl und Migration
- Adopt a Revolution
- Kurdische Gemeinde Deutschland (KGD)
- Türkischer Bund in Berlin-Brandenburg (TBB)
- Türkische Gemeinde Deutschland (TGD)
- Yekmal e.V.
- Netzwerk Berlin Hilft
- Flüchtlingsrat Niedersachsen
- FAQ des Auswertigen Amtes
Von Jonas Lehnen
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