Vor etwa einem Jahr, am 11. Juli 2018, verkündete das Oberlandesgericht München seine Urteile im Prozess gegen den "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU). Welche Auswirkungen hatten die Urteile auf die rechte Szene? Welche neuen Formen von Rechtsterrorismus gibt es? Und wie gefährlich sind sie? In einer Expertise für den MEDIENDIENST schreibt der Rechtsextremismus-Forscher Matthias Quent: Die Gefahr durch rechten Terror habe seit dem NSU nicht ab-, sondern zugenommen. Die Neonaziszene berge ein "Potenzial tickender Zeitbomben".
Die Expertise können Sie HIER herunterladen.
Aus aktuellem Anlass:
Ein 27-jähriger Rechtsextremist hat in Halle an der Saale eine Synagoge angegriffen. Der schwerbewaffnete Mann versuchte, in das Gotteshaus einzudringen. Anschließend erschoss er zwei Menschen, unter anderem in einem Imbiss. Laut Medienberichten soll es ein Bekennervideo und ein Manifest geben.
Gefahr durch rechten Terror nimmt zu
Parallel zum NSU-Verfahren hätten sich neue Dynamiken im rechten Milieu entwickelt, so Quent in der Expertise. Er sieht vor allem drei Gefahren:
- Organisierter Rechtsterrorismus: In den vergangenen Jahren sind Sicherheitsbehörden auf mehrere rechtsterroristische Gruppen aufmerksam geworden. Hierzu zählt etwa die Gruppe "Revolution Chemnitz", gegen die die Bundesanwaltschaft seit 2018 ermittelt. Laut Medienberichten soll ein Mitglied der Gruppe den NSU als "Kindergarten-Vorschulgruppe" bezeichnet und angekündigt haben, dessen Taten noch übertreffen zu wollen.
- "Alltagsterrorismus" gegen Geflüchtete: Seit 2015/2016 gab es zahlreiche Anschläge auf Geflüchtete, die in der Öffentlichkeit jedoch oft nicht als Terror bezeichnet wurden, so Quent. 2018 etwa wurden zwei Männer zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, weil sie einen Brandanschlag auf eine Asylunterkunft in Kremmen verübt hatten.
- Allein handelnde Terroristen: Einige Attentate der vergangenen Jahre gehen auf das Konto von allein handelnden Rechtsterroristen, zum Beispiel in München oder Christchurch. Zunehmend sind dabei in den vergangenen Jahren demokratische Politikerinnen und Politiker ins Visier rechter Gewaltakteure geraten.
Dass einige Rechtsterroristen und -terroristinnen in frühen Phasen gestoppt werden konnten, liegt laut Quent auch daran, dass sie schlecht organisiert waren. "Potenzielle Gewalttäter könnten daraus Wissen generieren und terroristische Strategien weiterentwickeln." Zudem könnten Ereignisse wie die rechten Demonstrationen in Chemnitz im August 2018 die Radikalisierung der Szene beschleunigen – und das Risiko erhöhen, dass Rechtsextreme "Taten statt Worte" sprechen lassen, wie schon der NSU.
NSU-Urteile hatten Signalwirkung
Die Urteile im NSU-Prozess hatten laut Quent eine Signalwirkung auf die rechte Szene. Das lag unter anderem an den vergleichsweise milden Strafen für einige der Angeklagten. Der Rechtsextremist André E. etwa erhielt zweieinhalb Jahre Freiheitsstrafe. Neonazis hatten daraufhin im Gerichtssaal applaudiert.
Hinzu kommt, dass im NSU-Prozess nur ein kleiner Teil des Terrornetzwerks juristisch belangt wurde. Rechtsextreme könnten das als Freibrief interpretieren, so Quent: "Der NSU hat der Szene gezeigt, dass ein organisierter, konspirativer Rechtsterrorismus möglich ist – und kann Nachahmenden als Blaupause für neue Terrorkampagnen dienen."
Tatsächlich beziehen sich viele Rechtsextreme auf die Taten des NSU: Immer wieder kommt es zu Straftaten, bei denen die Polizei einen Bezug zum NSU vermutet. Zwischen November 2011 und Juli 2018 zählte das Bundeskriminalamt über 350 solcher Delikte. Auch international nehmen Rechtsradikale auf den NSU Bezug: Erst im Mai 2019 wurde in der Schweiz eine Neonazigruppe bekannt, die Anschläge vorbereitet und sich dabei auf den NSU berufen hatte.
Von Carsten Janke
Der Artikel erschien zuerst am 18.06.2019.
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