Spätestens seit "9/11" beschäftigt islamistisch begründeter Terrorismus auch Deutschland. Nur wenige Wochen nach den verheerenden Anschlägen in den USA beschloss die Bundesregierung ein umfassendes Sicherheitspaket. Nach Bombenanschlägen in Madrid (2004) und London (2005) wurde in Deutschland 2007 eine "Antiterrordatei" eingeführt, um potentielle Attentäter*innen früh zu erkennen. Die Anschläge von Nizza, Würzburg und Berlin (2016) lösten eine erneute Diskussion um islamistisch begründeten Terrorismus aus.
Wie viele militante Islamisten gibt es in Deutschland?
Die Zahl der sogenannten "Gefährder" im Bereich islamistischer Terrorismus beläuft sich laut Bundeskriminalamt (BKA) auf 554 Personen. 320 "Gefährder" halten sich demnach in Deutschland auf, von ihnen befinden sich etwa 90 in Haft (Stand: August 2021). Für 136 als "Gefährder" eingestufte Personen liegen laut Bundesregierung offene Haftbefehle vor. Sie befinden sich alle im außereuropäischen Ausland (Stand: März 2021).Quelle
Unter einem "Gefährder" versteht das Bundeskriminalamt Personen, die "politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung" begehen könnten. Darunter fallen schwere Straftaten im Sinne von §100a der Strafprozessordnung (StPO), wie etwa die Finanzierung von Terrorismus (§89c) oder die Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat (§89a).Quelle
Hinzu kommen laut Bundeskriminalamt 527 "Relevante Personen" (Stand: August 2021). Das sind nach der Definition des Bundesinnenministeriums Personen im Umfeld von Gefährdern, die "bereit sind, bei der Vorbereitung einer politisch motivierten Straftat von erheblicher Bedeutung logistisch zu helfen oder zu unterstützen". Am Stichtag 6. April 2021 befanden sich insgesamt 22 "Relevante Personen" in Deutschland in Haft.Quelle
Wie steht es heute um militanten Islamismus in Deutschland? Was beschäftigt die radikale Szene? Und wie schätzen Sicherheitsbehörden die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan ein? Dazu sprachen drei Expert*innen bei einem Pressegespräch des MEDIENDIENSTES.
REFERENT*INNEN
Dr. Michael Kiefer
Islamwissenschaftler an der Universität Osnabrück. Er befasst sich seit mehr als 20 Jahren mit den Themenfeldern Antisemitismus, Islamismus und Radikalisierungsprävention.
Sven Kurenbach
Leiter der Abteilung "Islamistisch motivierter Terrorismus/Extremismus" beim BKA. Er ist seit 2003 beim BKA tätig, zuvor war er Inspektionsleiter bei den Spezialeinheiten des LKA Berlin.
Dr. Kerstin Eppert
Soziologin am Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG). Sie forscht unter anderem zu islamistischen Radikalisierungsdynamiken und "IS"-Rückkehrerinnen.
STATEMENTS DER REFERENT*INNEN (AUSZÜGE)
Dr. Michael Kiefer (Islam- und Politikwissenschafler an der Universität Osnabrück)
"9/11 war ein klarer Richtungswechsel für dschihadistische Bewegungen."
Bis 2001 haben islamistischen Bewegungen wie die Hamas oder Hisbollah ihre eigenen Regierungen bekämpft. Mit dem 11. September gerieten die USA und die westlichen Ländern in den Fokus des islamistischen Terrorismus. Auswirkungen für Deutschland wurden vor allem nach dem Aufstieg des sogenannten Islamischen Staates spürbar. So erlebte Deutschland 2016 eine Reihe von Anschlägen, die der "IS" für sich reklamierte.
Welche Folgen der Rückzug der westlichen Truppen aus Afghanistan hat, ist noch nicht absehbar. Möglicherweise könnte der internationalen Dschihadismus wiederaufblühen. Westliche Staaten müssen verhindern, dass es wieder zu einen Terrorismus-Tourismus kommt, wie wir ihn in Syrien und Irak beobachten konnten.
Dr. Kerstin Eppert (Soziologin am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung)
"Die hiesige Szene spielt eine extrem wichtige Rolle für 'IS'-Rückkehrer."
Seit der militärischen Niederlage des "IS" in Syrien bemühen sich führende Figuren der militant-islamistische Szene darum, die Bewegung zusammenzuhalten. Sie sind in Kontakt mit "IS"-Rückkehrern, unterstützen bei Gerichtsprozessen, kümmern sich um Familienangehörige. Gleichzeitig werden Rückkehrerinnen und Rückkehrer, die sich deradikalisieren wollen, von der Szene unter Druck gesetzt.
Die militanten Bewegungen in Deutschland feiern den Truppenabzug aus Afghanistan in den sozialen Medien. Seit dem Niedergang des "IS" fehlte es den hiesigen Bewegungen an Themen, um ihre Narrative weiter auszubauen. An Afghanistan können sie jetzt wieder anknüpfen, das beobachten wir bereits im Netz.
Sven Kurenbach (Leiter "Islamistisch motivierter Terrorismus/Extremismus" beim BKA)
"Es ist damit zu rechnen, dass es wieder Ausbildungslager in Afghanistan geben wird."
Vor 20 Jahren setzten sich bei der Abteilung Staatsschutz des BKA ungefähr zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit dem Phänomen des islamistischen Terrorismus auseinander. Im Jahr 2001 gab es kein Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ), es gab keinen Gefährderbegriff und damit auch keine Gefährder. Reisebewegungen aus Deutschland heraus in Dschihadgebiete kamen - wenn überhaupt - nur vereinzelt vor und die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland konnte in Deutschland bis zu den Anschlägen in den USA strafrechtlich nicht verfolgt werden. Seit "9/11" hat sich die Sicherheitsarchitektur in Deutschland wesentlich geändert.
Meine Befürchtung ist, dass die Taliban unterschiedlichste Terrororganisationen auf ihrem Staatsgebiet tolerieren werden und es in Afghanistan wieder Ausbildungslager geben wird. Das wird sich irgendwann auf die Sicherheitslage in Europa auswirken. Darauf müssen wir uns als Sicherheitsbehörden vorbereiten. Ich erwarte auch, dass es wieder Ausreisen aus Deutschland in die Region geben wird. Es ist allerdings deutlich schwieriger nach Afghanistan zu kommen, als nach Syrien oder in den Irak.
Von Tomma Neveling
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