Die deutsche Gesellschaft wird immer vielfältiger. Inzwischen haben 26 Prozent der Menschen einen sogenannten Migrationshintergrund. In vielen Bereichen des öffentlichen Lebens spiegelt sich diese Entwicklung allerdings nicht wider. Nicht in den Medien, nicht in der Verwaltung. Und auch nicht in den Parlamenten. Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Kommunalparlamenten liegt im Schnitt bei vier Prozent, im Bundestag bei acht Prozent. Woran liegt das?
"Es sind eine Vielzahl struktureller und persönlicher Gründe", sagt die Sozialwissenschaftlerin Deniz Nergiz, Geschäftsführerin des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrats (BZI). Oftmals fehlten Eingewanderten und ihren Nachfahren die Netzwerke, die es brauche, um sich in der Politik zu etablieren.
Das Hauptproblem aber sieht Nergiz bei den Parteien. Sie müssten sich mehr öffnen. Zwar gebe es in vielen Parteien inzwischen entsprechende Bemühungen, etwa in Form von Arbeitsgruppen, die sich dem Thema Diversität widmen. "Oftmals sind diese Bemühungen aber zu unverbindlich und zu unkonkret."
Parlament, Wahlliste, Partei: verschiedene Möglichkeiten einer Quote
Ein Instrument, das in diesem Zusammenhang häufig diskutiert wird, ist eine Quote für Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Laut Lars Holtkamp, Politikwissenschaftler an der FernUniversität Hagen, gibt es dafür zwei realistische Möglichkeiten: Entweder eine gesetzliche Quotierung der Wahllisten oder eine Quote, die sich die Parteien selbst geben.
Bei einer Quotierung der Wahllisten würde Parteien vorgeschrieben, dass eine bestimmte Zahl der Kandidat*innen auf ihren Wahllisten einen Migrationshintergrund haben muss. Die Höhe der Quote könnte sich dabei nach der Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund in der Kommune oder im Bundesland richten, je nachdem, ob es eine Kommunal-, Landtags- oder Bundestagswahl handelt. Direktkandidat*innen wären dann von der Quotenregelung ausgenommen.
Die zweite Möglichkeit wäre, dass sich Parteien selbst eine Quote auferlegen. "Wenn das gelingt und gut nach außen kommuniziert wird, kann es Nachahmer bei anderen Parteien finden", sagt Holtkamp. Als Beispiel nennt er die parteiinterne Frauenquote, die zuerst bei den Grünen eingeführt – und später von anderen Parteien übernommen wurde.
Die Debatte um die Quote
Ob eine Quote der richtige Weg ist, wird seit langem diskutiert. Initiativen wie die neuen deutschen organisationen fordern eine Quote für Parteien, Ministerien, Gremien und staatliche Organe. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoğlu, sprach sich anlässlich der letzten Bundestagswahl in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel ebenfalls für eine Quote in der Politik aus.
"Übergangsweise wäre die Quote ein wichtiges Signal"
Die Sozialwissenschaftlerin Deniz Nergiz ist skeptisch, ob eine Quotenregelung umsetzbar ist. "Wer entscheidet welche Gruppe wie stark in den Parlamenten repräsentiert ist?", fragt sie. Menschen mit Einwanderungsgeschichte seien keine homogene Gruppe, sagt Nergiz. Eine Quote könne zu Verteilungskämpfen der einzelnen Gruppen um die Plätze führen oder dazu, dass bestimmte Gruppen bei der Vergabe bevorzugt würden.
Heikel sei auch die statistische Erfassung. Die meisten Parteien würden die Einwanderungsgeschichte ihrer Mitglieder nicht erheben, sagt Nergiz. Und auch der Begriff "Migrationshintergrund" sei eine "Herausforderung" für solch eine Quotenregelung. Viele Menschen würden den Begriff ablehnen, weil sie sich dadurch auf ihre Herkunft reduziert fühlten. Anderseits würde er andere Gruppen wie Schwarze Deutsche oder Sinti*zze und Rom*nja nicht zwangsläufig erfassen. "Dabei geht es beim Thema Diversität ja auch um sie."
Sie lehne eine Quote zwar nicht grundsätzlich ab, sagt Nergiz. Viel wichtiger sei es aber, die Parteien wirklich davon zu überzeugen, wie bedeutend Diversität sei. "Ohne diese Überzeugung nützen alle Quoten und Beschlüsse nichts."
Damir Softic ist Erziehungs- und Sozialwissenschaftler. Für seine Dissertation hat er die politische Laufbahn von 26 Bundestagsabgeordneten mit und ohne Einwanderungsgeschichte untersucht. Auch Softic sieht die Herausforderungen, die verbindliche Quoten mit sich bringen. Er plädiert dennoch dafür. "Es hat in der Vergangenheit immer wieder Quoten gegeben", sagt er. Die Quote für Frauen in Aufsichtsräten beispielsweise oder für den Frauenanteil in einzelnen Parteien.
Warum die Forderung nach einer Quote bislang gescheitert ist? "Es gibt immer noch zu wenig Menschen mit Einwanderungsgeschichte, die sich dauerhaft in der Politik engagieren und damit Druck aufbauen können", meint Softic. Zugleich seien zu viele "autochthone Deutsche" noch nicht von der Bedeutung von Diversität überzeugt. "Dabei bedeutet sie für Politiker*innen letztlich auch Wählerstimmen." Eine Quote sei für ihn keine Dauerlösung, sagt Softic. "Aber übergangsweise wäre sie ein wichtiges Signal."
Juristische Hürden
Eine verbindliche Quote für Wahllisten bei Parlamentswahlen würde allerdings vor juristischen Hürden stehen. "In Deutschland gelten die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit für Wahlen. Wahlen sollen möglichst ohne staatlichen Einfluss ablaufen", sagt Friederike Wapler, Rechtswissenschaftlerin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Vorgaben über die Zusammensetzung der Kandidat*innen würden entsprechend einen "erheblichen Eingriff" bedeuten.
Rechtfertigen ließe sich so ein Eingriff laut Wapler nur mit der Verfassung. "Die Forderungen nach einer Quote für Frauen etwa lassen sich mit dem Gleichstellungsauftrag im Grundgesetz (Artikel 3 Absatz 2 GG) rechtfertigen – und selbst das ist umstritten." Bei der Forderung nach mehr Repräsentanz von Menschen mit Migrationshintergrund werde es noch schwieriger – auch wenn deren Unterrepräsentanz empirisch belegt sei. "Wenn man das politisch will, sollte man dafür die Verfassung ändern", sagt Wapler.
Von Sascha Lübbe
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