Dieser Artikel ist ursprünglich am 20.09.2022 erschienen, wurde am 11.01.2023 und am 22.06.2023 aktualisiert.
Um mehr Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen, will die Bundesregierung das Einwanderungsrecht überarbeiten. Ein entsprechender Gesetzentwurf des Innen- und Arbeitsministeriums soll mit Änderungen am 23. Juni im Bundestag verabschiedet werden. Ein Bestandteil der Reform wird die sogenannte Chancenkarte sein: Mit dieser sollen Interessierte aus Drittstaaten für zunächst ein Jahr nach Deutschland einreisen können, um sich hier eine Stelle zu suchen.
Kurz vor Verabschiedung wurden mehrere Regelungen zur Chancenkarte angepasst: Die notwendigen Sprachkenntnisse wurden auf "einfache Kenntnisse" (A1) herabgesetzt, die Karte kann einmalig um zwei Jahre verlängert werden und Qualifikationen in Engpassberufen verbessert die Chancen auf die Karte. Zudem dürfen Personen während der Suche nicht nur Teilzeitbeschäftigungen annehmen.
Wie sehen die Pläne der Bundesregierung für eine Chancenkarte aus?
Die Ampel-Koalition will zusätzlich zu den bestehenden Möglichkeiten der Arbeitsmarkt-Einwanderung eine Einwanderung zur Job-Suche für Personen aus Nicht-EU-Staaten einführen, mit der sogenannten Chancenkarte. Voraussetzung ist, dass die Person in dieser Zeit ihren Lebensunterhalt selbst sichern kann. Per Verordnung kann ein Kontingent für eine bestimmte Anzahl an Chancenkarten festgelegt werden.
Die Chancenkarte gilt zunächst für ein Jahr und kann um weitere zwei Jahre verlängert werden, falls die Person einen Arbeitsvertrag oder ein Angebot in einer qualifizierten Beschäftigung hat. Wer einen in Deutschland anerkannten Abschluss vorweisen kann, erfüllt sofort die Bedingungen für eine Chancenkarte. Wer eine zweijährige Berufsausbildung oder einen Hochschulabschluss hat, die im Heimatland staatlich anerkannt sind, kann ebenfalls eine Chancenkarte beantragen. Bewerber*innen müssen laut Beschlussvorlage einfache deutsche Sprachkenntnisse (A1) vorweisen, sowie sechs Punkte nach einem bestimmten System erwerben. Anerkennt werden Sprachkenntnisse, Berufserfahrung, Alter und "Deutschlandbezug":
- Vier Punkte gibt es für einen ausländischen Berufsabschluss, der nach deutschen Standards anerkannt wird, auch wenn eventuell noch eine Nachqualifizierung erforderlich ist.
- Drei Punkte gibt es für mindestens fünfjährige Berufserfahrung oder für "gute deutsche Sprachkenntnisse".
- Zwei Punkte gibt es für "ausreichende deutsche Sprachkenntnisse" auf B1-Level, für zweijährige Berufserfahrung, sowie für Personen, die nicht älter als 35 Jahre sind.
- Einen Punkt gibt es "für hinreichende deutsche Sprachkenntnisse", bei einem vorangegangenen Aufenthalt in Deutschland (mindestens sechs Monate in den vergangenen fünf Jahren), bei einem Alter zwischen 35 und 40 Jahren, bei Englisch-Kenntnissen auf C1-Niveau, wenn die Qualifikation einem Engpassberuf zugeordnet werden kann sowie wenn der/die Partner*in Kriterien für die Chancenkarte erfüllt.Quelle
Was sagen Expert*innen und die Wirtschaft dazu?
Der Arbeitsmarktforscher Holger Bonin hat Zweifel daran, dass über die geplante Chancenkarte mehr Menschen aus Drittstaaten nach Deutschland kommen werden. "Das System ist viel zu kompliziert", sagte der Forschungsdirektor des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) dem MEDIENDIENST. Um zu prüfen, ob jemand die geforderten Kriterien erfülle, müsse eine umfangreiche Bürokratie aufgebaut werden. Ein solches System könne auf potenzielle Arbeitskräfte abschreckend wirken. Wenn außerdem ein jährliches Kontingent festgelegt werde, schaffe das weitere Unsicherheit im Ausland.
Wichtiger als eine neue Chancenkarte findet Bonin, bestehende Hürden bei der Zuwanderung aus Drittstaaten abzusenken. Dazu zählt aus seiner Sicht die Anerkennung von Berufsabschlüssen. Schon jetzt bietet das Fachkräfteeinwanderungsgesetz für Fachkräfte mit Berufsausbildung die Möglichkeit, nach Deutschland einzureisen und dort bis zu sechs Monate lang nach einem Arbeitsplatz zu suchen. Voraussetzung dafür ist unter anderem, dass die ausländische Qualifikation in Deutschland als "gleichwertig" anerkannt wird. Doch daran hapert es oft in der Praxis. Deutschland sei zu stark auf formale Zertifikate fixiert und vertraue zu wenig auf die Fähigkeit der Arbeitgeber, geeignete Bewerber zu finden. "Da könnten wir großzügiger sein", sagt Bonin.
Nach Angaben der Arbeitgeberverbände ist die Anerkennung von im Ausland erworbenen Kenntnissen nur schwer möglich, wenn diese nicht über einen formalen Bildungsweg, sondern über praktisches Lernen im Arbeitsprozess erworben wurden. Problematisch werde es auch dann, wenn es keinen deutschen Referenzberuf gebe, den die zuständigen Anerkennungsstellen als Vergleichsmaßstab heranziehen können. In einem Positionspapier schlagen die Arbeitgeber vor, alternativ zur formalen Anerkennung könne "relevante Arbeitserfahrung" in einer qualifizierten Tätigkeit durch ein Arbeitszeugnis "unkompliziert" nachgewiesen werden.Quelle
Wie viele Menschen wandern aus Drittstaaten auf den Arbeitsmarkt ein?
Seit Mitte der 2000er Jahre hat Deutschland angefangen, den eigenen Arbeitsmarkt für Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten (sogenannten Drittstaaten) zu öffnen. Seitdem gab es zahlreiche Gesetzesreformen, die die Zuwanderung von Arbeitskräften erleichtern sollten. Die Zahl der einwandernden Fachkräfte blieb jedoch überschaubar. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz aus dem Jahr 2020 hat daran bisher noch nicht viel geändert, wegen der Corona-Pandemie sind die Zahlen allerdings nur begrenzt aussagefähig. Im Jahr 2020 führte die Pandemie zu einer Halbierung der Einwanderung zu Erwerbszwecken. 2021 stieg die Zahl nur leicht und blieb unter dem Niveau von 2019 (siehe Grafik).Quelle
Wie viel Zuwanderung braucht Deutschland?
In Deutschland sorgt die demographische Entwicklung schon heute für einen spürbaren Mangel an Arbeitskräften. In den nächsten 15 Jahren wird die Generation der Babyboomer in den Ruhestand gehen. Bis 2036 werden laut Statistischem Bundesamt 12,9 Millionen Erwerbspersonen das Rentenalter überschritten haben. Das entspricht knapp 30 Prozent der Erwerbstätigen des Jahrs 2021. Die jüngeren Altersgruppen können diese nicht ersetzen.Quelle
Bis zum Jahr 2026 werden laut einem Fachkräftemonitoring für das Arbeitsministerium schätzungsweise 240.000 Stellen mehr neu zu besetzen sein, als Arbeitskräfte verfügbar sein werden. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hält langfristig eine Nettozuwanderung von mindestens 400.000 Personen im Jahr für notwendig. Da jedes Jahr auch zahlreiche Menschen aus Deutschland abwandern, würde das bedeuten, dass es 1,5 bis 1,6 Millionen Zuzüge geben müsste, sagte der IAB-Migrationsexperte Herbert Brücker dem MEDIENDIENST. "Davon sind wir weit entfernt."Quelle
Für viele Unternehmen zählt der Fachkräftemangel mittlerweile zu den größten Geschäftsrisiken. So äußerten im Frühsommer 2022 rund 56 Prozent der Betriebe in der Konjunkturumfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) die Berfürchtung, in den kommenden zwölf Monaten nicht genügend qualifiziertes Personal zu finden.Quelle
Engpässe zeichnen sich laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in zahlreichen Berufen ab: Dazu gehören unter anderem das Handwerk, Bauberufe, Metall- und Maschinenbau, Pflege und andere Gesundheitsberufe, Erzieher*innen und nach wie vor IT-Berufe.Quelle
Von Cordula Eubel
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.