Die Arbeitsfreizügigkeit ist ein "Grundrecht und ein Eckpfeiler der europäischen Integration", sagt der ausscheidende EU-Sozialkommissar László Andor. Nach EU-Recht darf jeder Unionsbürger im Prinzip überall in der Europäischen Union leben und arbeiten. Dafür muss er allerdings nachweisen können, dass er sich im Aufnahmeland finanziell über Wasser halten kann. Diese Fähigkeit ist wiederum an die Möglichkeit gebunden, im Aufnahmeland Arbeit zu suchen. Wie soll man aber Arbeit suchen, wenn man über keine Existenzmittel verfügt?
Diese Frage beschäftigt derzeit Juristen auf höchster europäischer Ebene. Das Thema ist auch deshalb so kompliziert, weil jeder Mitgliedstaat ein eigenes Sozialsystem mit eigenen Regeln hat. Außerdem ist die Rechtslage im ständigen Wandel: Was heute rechtskonform ist, kann morgen aufgrund eines neuen Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) rechtswidrig sein.
Darf sich jeder Unionsbürger einfach in Deutschland niederlassen? Ab wann kann er oder sie Hartz IV beantragen? Und was passiert bislang mit "Sozialbetrügern"? Der Mediendienst hat die wichtigsten Fragen zur Freizügigkeit in einem Informationspapier beantwortet.
Daraus geht unter anderem hervor, dass Unionsbürger, die nach Deutschland kommen, in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Außerdem gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen Erwerbstätigen und Nicht-Erwerbstätigen: Während Erstere ihre Ansprüche im Fall einer unfreiwilligen Arbeitslosigkeit behalten, sind Letztere prinzipiell von jeglicher Sozialhilfeleistung ausgeschlossen.
Keine Daten über Missbrauch bekannt
Dass die Rechtslage sehr kompliziert ist, weiß auch die Bundesregierung. Deshalb sammelt seit Januar ein Staatssekretärs-Ausschuss Daten über die Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch EU-Bürger in Deutschland. Der daraus resultierende Bericht soll in den kommenden Tagen veröffentlicht werden. Noch bevor die Daten publik werden, haben Innenminister Thomas de Maizière und Arbeitsministerin Andrea Nahles bereits eine Reform des Freizügigkeitsgesetzes geplant, die das Ziel hat, Missbrauchsfälle zu vermeiden. Ein entsprechender Referentenentwurf befindet sich derzeit noch in der Abstimmungsphase, bevor er laut Medienberichten am 28. August dem Kabinett vorgelegt werden soll.
Die Hauptpunkte dieser Reform sind dieselben, die de Maizière und Nahles bereits im März anlässlich der Veröffentlichung eines Zwischenberichts des Staatssekretärs-Ausschusses erläutert hatten:
- Unionsbürger sollen künftig nur sechs Monate Zeit haben, um in Deutschland einen Job zu suchen. Haben sie danach keine konkrete Aussicht auf eine Stelle, können sie ausgewiesen werden.
- Wer sich mit gefälschten Dokumenten das Aufenthaltsrecht erschleicht, soll ein Wiedereinreiseverbot von bis zu fünf Jahren erhalten. Dies galt bislang nur für Menschen, die "eine Gefahr für die öffentliche Ordnung" darstellen. In wie vielen Fällen ein entsprechendes Wiedereinreiseverbot zum Tragen kommen würde, ist bislang unbekannt.
- Kindergeld soll künftig nur bei Angabe einer Steuernummer gezahlt werden. Hiermit wollen die Minister vermeiden, dass Anträge mehrfach gestellt werden.
Viele offene Fragen
Die CSU, die im vergangenen Jahr die Debatte über die sogenannte „Armutsmigration“ mit dem Slogan „Wer betrügt, der fliegt“ auslöste, zeigt sich mit den Vorschlägen unzufrieden. So stellte die Partei bereits einen Antrag im Bundesrat, in dem sie eine Reform der EU-Freizügigkeitsrichtlinie fordert.
Eine derartige Reform ist unwahrscheinlich, da nur der Europäische Rat und die Kommission ein Initiativrecht im Bezug auf bestehende Richtlinien haben. Selbst die von der Bundesregierung geplante Reform des Freizügigkeitsgesetzes ist womöglich aus europarechtlicher Perspektive nicht einwandfrei. Denn nach dem EU-Recht darf kein Unionsbürger pauschal vom Genuss seiner Freizügigkeitsrechte ausgeschlossen werden – es sei denn, er stellt eine Gefahr für die Gesellschaft dar.
(Dieser Artikel wurde am 13. August aktualisiert.)
Von Fabio Ghelli
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