Am 21. September hat die russische Regierung eine sogenannte Teilmobilisierung angeordnet. Das heißt: Russische Staatsbürger*innen, die den Militärdienst absolviert haben, sowie Zeitsoldaten und Reserveoffiziere bis 45 Jahre können eingezogen und in den Krieg in der Ukraine geschickt werden. 300.000 "Reservisten" sollen einberufen werden, sagt das russische Verteidigungsministerium.
Viele russische Staatsbürger*innen – besonders Männer – haben daraufhin versucht, das Land zu verlassen, um sich der Einberufung zu entziehen. Wie viele es sind, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Aber schon wenige Stunden nach Ankündigung der Mobilisierung waren laut Medienberichten zahlreiche Flüge aus Russland ausgebucht. An mehreren Grenzübergängen bildeten sich Staus. Das georgische Innenministerium sprach von etwa 10.000 Einreisen nach Ankündigung der Teilmobilisierung (Stand: 26. September).
Können Wehrdienstverweigerer Russland jetzt noch verlassen?
Es ist schwieriger geworden, Russland zu verlassen – besonders für Männer im Wehrdienstalter. Laut russischen Medienberichten müssen Männer in einigen Regionen nachweisen, dass sie vom Wehrdienst befreit sind, um ins Ausland zu fliegen. Auch an einigen Landesgrenzen werden ausreisende Männer kontrolliert.
Können sie in die Europäische Union einreisen?
Es ist zudem schwieriger geworden, selbst mit einem Visum in die Europäische Union einzureisen: Anfang September hat die Europäische Kommission die Visa-Erleichterungen für russische Staatsbürger*innen aufgehoben. Estland, Litauen, Lettland und Polen erteilen keine Kurzzeit-Visa (sogennnte Schengen-Visa) mehr an russischen Staatsbürger*innen. Die einzige Landgrenze, an der Russ*innen mit Kurzzeit-Visa zunächst noch in die EU einreisen konnten, war die finnische. Doch seit dem 30. September ist die Grenze für Russ*innen mit Schengen-Visum geschlossen. Ausnahmen gelten für Einreisen aus humanitären Gründen. Zudem dürfen Russ*innen weiter nach Finnland einreisen, um dort ihre Familie zu treffen, zu arbeiten oder zu studieren.
Die Zahl der Russ*innen, die nach Finnland eingereist sind, war nach Ankündigung der "Teilmobilisierung" stark gestiegen: In einer Woche waren es nach Angaben der finnischen Grenzpolizei etwa 50.000 Personen. Die Grenzschutzagentur FRONTEX spricht von 66.000 Einreisen von russischen Staatsbürger*innen in die EU zwischen dem 9. und 25. September 2022.
Wie können Wehrdienstverweigerer nach Deutschland einreisen?
Prinzipiell benötigen russische Staatsbürger*innen, die nach Deutschland einreisen möchten, ein Visum. Das zu erhalten kann mehrere Wochen dauern. Zwischen Februar und Ende September 2022 wurden knapp 54.000 Visaanträge von russischen Staatsbürger*innen bearbeitet – das ist deutlich mehr als im Gesamtjahr 2021 (rund 40.000 Visa). Im Mai 2022 versprach das Bundesinnenministerium, ein "schnelles und unbürokratisches Visum-Verfahren" einzuführen, um verfolgten Russ*innen Schutz zu gewähren. Das betrifft in erster Linie oppositionelle Politiker*innen, Vertreter*innen von Menschenrechtsorganisationen und Journalist*innen. Seit Mai 2022 wurden lediglich etwa 100 derartige Visa erteilt – 20 davon zwischen Juni und September 2022. Wehrdienstverweigerer*innen gelten nicht per se als politisch Verfolgte. Das deutsche Innenministerium hat dennoch bekannt gegeben, dass Personen, die sich dem russischen Regime entgegenstellen und den Kriegsdienst verweigern, Schutz in Deutschland bekommen können.
Bekommen Kriegsdienstverweigerer*innen Asyl?
Prinzipiell gilt: Wenn Soldat*innen den Militärdienst verweigern, weil er Verbrechen oder menschenrechtswidrige Handlungen umfassen würde, haben sie nach deutschem sowie europäischem Asylrecht Anspruch auf Asyl. Laut einer Anweisung des Bundesinnenministeriums ist außerdem davon auszugehen, dass Deserteur*innen in Russland Verfolgung droht. Sie müssen also nicht nachweisen, dass sie als Soldat*innen an menschenrechtswidrigen Handlungen beteiligt wären, um Schutz zu erhalten. Wie im Fall anderer Schutzgründe gilt auch hier: Alle Asylanaträge werden einzeln geprüft. Deserteur*innen müssen dabei nachweisen, dass sie sich tatsächlich dem Kriegsdienst entzogen haben. Derzeit diskutieren die EU-Mitgliedstaaten, ob russische Deserteur*innen schneller Asyl erhalten sollen.
Wie viele Russ*innen haben bisher in der Europäischen Union und in Deutschland Asyl erhalten?
Die Zahl der russische Staatsbürger*innen, die zum ersten Mal in der Europäischen Union einen Asylantrag gestellt haben, hat sich im ersten Halbjahr 2022 fast verdreifacht im Verhältnis zum Vorjahreszeitraum: von 1.700 Anträgen auf mehr als 4.600. Auch in Deutschland ist die Zahl der Antragsteller*innen aus Russland gestiegen – um rund 44 Prozent. Schutz haben in der EU rund ein Drittel der Asylbewerber*innen aus Russland erhalten, in Deutschland lediglich 12 Prozent.
Wohin fliehen russische Dissidenten und Wehrdienstverweigerer?
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine haben mehrere hunderttausend russische Staatsbürger*innen das Land verlassen. Nach Schätzungen des russischen Dienstes für Statistik (Rosstat) waren es im ersten Halbjahr 2022 rund 419.000 Personen. Für viele von ihnen war der Krieg ein entscheidender Grund zur Ausreise. Unter ihnen waren rund 100.000 militärdienstpflichtige Männer schätzt die deutsche Wehrdienstverweigerer*innen-Organisation "Connection e.V.". Seit Ankündigung der "Teilmobilisierung" sind das viel mehr geworden. Die meisten Russ*innen haben Zuflucht in Ländern gesucht, für die kein Visum nötig ist: Georgien, Armenien, Kasachstan, die Türkei und Serbien.
Von Fabio Ghelli
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