Seit dem Kriegsausbruch im Februar haben schätzungsweise mindestens 300.000 Russ*innen ihr Land verlassen. Unter ihnen sind viele Regimegegner*innen: oppositionelle Journalist*innen, Wissenschaftler*innen, Menschenrechtler*innen.
Nur wenige von ihnen sind nach Deutschland geflüchtet, obwohl hier die größte russische Community in Westeuropa lebt. Die Hürden für eine Einreise nach Deutschland waren bislang hoch. Die Bundesregierung will das zumindest stellenweise ändern:
- Russische Regierungskritiker*innen sollen leichter aus Russland nach Deutschland einreisen können.
- Verfolgte russische Journalist*innen, die sich bereits in Deutschland aufhalten, sollen mehr Unterstützung erhalten.
Journalist*innen sind besonders gefährdet
Regierungskritische Journalist*innen wurden in Russland schon vor dem Krieg systematisch verfolgt, wie die internationale Journalist*innen-Organisation "Reporter ohne Grenzen" festgestellt hat. Die Lage sei nach Kriegsausbruch noch gefährlicher geworden. Etwa 700 russischen Journalist*innen mussten nach Schätzungen des "Russischen Zentrums zur Verteidigung der Rechte von Massenmedien" Russland nach Kriegsbeginn verlassen. Rund 80 von ihnen sollen sich derzeit in Deutschland aufhalten.
Die meisten von ihnen sind mit kurzfristigen Touristenvisa nach Deutschland eingereist. Wenn sie hier bleiben möchten, haben sie nur zwei Optionen: einen Asylantrag stellen oder zurück nach Russland zu gehen, um dort ein neues Visum zu beantragen. Beides ist für regierungskritische Journalist*innen äußerst schwierig, sagt die russische Journalistin Angelina Davydova. "Nach Russland zurückzukehren, wäre viel zu gefährlich", so Davydova. Wenn Journalist*innen einen Asylantrag stellen, dürfen sie monatelang nicht arbeiten – und können nicht mehr die politischen Entwicklungen in Russland kritisch begleiten. Das gilt offenbar auch für andere Regimekritiker*innen: die Zahl der Asylanträge aus Russland ist zuletzt nicht gestiegen.
Das Bundesinnenministerium hat nun ein Unterstützungsprogramm für verfolgte russische Journalist*innen angekündigt. Ausländerbehörden sollen nach Angaben des Innenministeriums demnächst kurzzeitige Schengen-Visa in einjährige Nationalvisa umwandeln. Das soll zunächst nur für 44 russische Journalist*innen gelten, die von "Reporter ohne Grenzen" betreut werden. Das Bildungsministerium hat außerdem den russischen Journalist*innen Stipendien in Aussicht gestellt.
Mehr humanitäre Visa, aber nicht für alle
Regierungskritiker*innen, die sich noch in Russland oder in Drittstaaten befinden, sollen laut Innenministerium durch ein "schnelles und unbürokratisches Visum-Verfahren" bald nach Deutschland einreisen können. Den rechtlichen Rahmen dafür bietet Paragraph 22 des Aufenthaltgesetzes. Er ermöglicht aus "dringenden humanitären Gründen" Personen aus dem Ausland "zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland" aufzunehmen. Neben Journalist*innen soll diese Regelung für andere gefährdete Gruppen gelten: Politiker*innen der Opposition, Wissenschaftler*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Vertreter*innen von Organisationen, die die russische Regierung als "ausländische Agenten" eingestuft hat. Zum Stichtag 13. Juni meldete das Auswärtige Amt etwa 80 Verfahren für eine Aufnahme russischer Staatsangehöriger nach §22.
Die Visa-Erleichterungen gelten aber nicht für andere gefährdete Gruppen wie etwa Soldat*innen, die sich nicht am Angriffskrieg auf die Ukraine beteiligen wollen und deshalb als Deserteure in Russland in Haft landen können. "Wir haben von Rekruten gehört, die gegen ihren Willen an die Front geschickt wurden oder dazu gezwungen wurden, Einsatzverträge zu unterschreiben", sagt Rudi Friedrich von der Organisation "Connection e.V.", die Kriegsdienstverweigerer*innen weltweit unterstützt.
Soldat*innen, die sich dem Krieg entziehen wollen, können zwar versuchen, aus eigenen Stücken Russland zu verlassen. Wenn sie in Deutschland ankommen, können sie hier einen Asylantrag stellen. Wenn Soldat*innen den Militärdienst verweigern, weil der Dienst Verbrechen oder menschenrechtswidrigen Handlungen umfassen würde, haben sie nach deutschem sowie europäischem Asylrecht Anspruch auf Asyl. Zudem hat das Bundesinnenministerium erklärt, dass eine Desertion als asylrechtlich relevant angesehen würde. "Besonders schwierig ist es aber für Personen, die sich dem Kriegsdienst entzogen haben", sagt Friedrich. "Sie müssten beweisen, dass sie rekrutiert werden. Wer aber bereits einberufen worden ist, für den ist es extrem schwierig, zu fliehen", sagt Friedrich.
Von Fabio Ghelli
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