Im Februar ging eine Nachricht um die Welt: Die schwäbische Gemeinde Ostelsheim wählte Ryyan Alshebl, der 2015 aus Syrien geflohen war, zum Bürgermeister. Dass Personen mit Einwanderungsgeschichte Spitzenämter in der Politik erreichen, ist immer noch eine Seltenheit. Eine Recherche des MEDIENDIENST INTEGRATION für größere und kreisfreie Städte zeigt: Nur vier von 336 Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeistern (OB) in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Das entspricht rund 1,2 Prozent. Zum Vergleich: In der Bevölkerung haben rund 29 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund.Quelle
Zahl der OBs mit Migrationshintergrund gesunken
Im Jahr 2020 hatte der MEDIENDIENST erstmals erhoben, wie viele Oberbürgermeister*innen mit Migrationshintergrund es in Deutschland gibt. Damals regierten bundesweit sechs Oberbürgermeister mit Einwanderungsgeschichte in Bonn, Kehl, Landshut, Hannover, Rostock und Görlitz. Bonn, Kehl und Rostock haben mittlerweile andere Oberbürgermeister*innen. Hinzu kommt Mike Josef (SPD), der am 11. Mai als Oberbürgermeister von Frankfurt/Main ins Amt eingeführt wird. Josef floh als Kind mit seiner Familie aus Syrien. Frauen mit Migrationshintergrund gibt es nach wie vor nicht im Amt.Quelle
Begriff Oberbürgermeister*in
Der Begriff "Oberbürgermeister*in" wird in Deutschland nicht einheitlich benutzt. Die meisten größeren und kreisfreien Städte nennen ihre Stadtoberhäupter so. Zu diesen 331 Städten wurden noch 5 Städte hinzugenommen, die eigene Bezeichnungen verwenden (Berlin, Hamburg, Bremen, Lübeck, Wismar).
Zum Ablauf der Recherche
Für die ursprüngliche Recherche hat der MEDIENDIENST bei den Landesverbänden der Parteien angefragt und eine Liste der OBs in Deutschland verwendet. Neu gewählte Personen wurden nachrecherchiert. Hinweise auf einen Migrationshintergrund wurden mit Biografien auf Websites, Interview-Aussagen, Medienberichten oder Anfragen bei den Büros der Oberbürgermeister*innen abgeglichen. Die Liste der Oberbürgermeister mit Migrationshintergrund erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Vielfalt als Wahlkampfthema zieht nicht
Im Vergleich zu Bundestagen und Landtagen ist das Repräsentationsdefizit bei Oberbürgermeister*innen besonders hoch. "Je umkämpfter Mandate sind, desto schwieriger wird es für Menschen mit Einwanderungsgeschichte", sagt Cihan Sinanoğlu vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung. Für die Posten müsse man viel Vorarbeit leisten und langjähriges Mitglied einer Partei sein. "Man braucht vor allem starke Netzwerke – die fehlen Personen mit Einwanderungsbiografie häufig."
Bei den Wahlen zu Oberbürgermeister*innen gibt es Sinanoğlu zufolge einen wichtigen Unterschied: Es funktioniert nicht, wenn ein*e Kandidat*in als Schwerpunkt zu sehr auf das Thema Vielfalt und Repräsentation setzt. "Es muss eine große Bandbreite an Themen geben. Das wurde auch im Wahlkampf der aktuellen Oberbürgermeister*innen mit Einwanderungsgeschichte deutlich: Das Thema Vielfalt spielte kaum eine Rolle", sagt er. Das zeige auch gewissen Normalisierung. "Menschen mit Einwanderungsbiografie sind Teil der Politik."
Unter den Oberbürgermeister*innen haben einige keine Parteizugehörigkeit. Für die Parteien wird es wird dem Sozialwissenschaftler zufolge aber immer wichtiger werden, dass Personen mit Einwanderungsgeschichte auch hohe Positionen einnehmen – denn in den nächsten Jahren wird der Anteil von Wähler*innen mit Einwanderungsgeschichte weiter zunehmen, die das erwarten. Dazu Sinanoğlu: "Dafür muss sich aber in den Strukturen der Parteien noch einiges ändern."
Von Jonas Lehnen und Andrea Pürckhauer
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