MEDIENDIENST: Herr Uslucan, braucht Deutschland eine Migrant*innen-Partei?
Hacı-Halil Uslucan: Ich glaube nicht. Politische Partizipation von Einwanderer*innen ist enorm wichtig, um ihre Interessen öffentlich zu machen und eventuell durchzusetzen. Die wenigen Beispiele von Parteien, die sich spezifisch an Einwanderer*innen gewendet haben, waren definitiv keine Erfolgsgeschichten: Sie wollten am Ende nur die Interessen einer kleinen Gruppe bedienen. Es ging ihnen also nicht um eine inklusive Politik. Eine derartige Kleinpartei würde zudem dazu beitragen, Wähler*innenpotential zu verschwenden.
Mehr als zehn Prozent der Wahlberechtigten haben einen Migrationshintergrund – bald werden es noch mehr sein. Das ist keine Kleinpartei…
Ich glaube nicht, dass eine einzige Partei die Interessen aller Menschen mit Einwanderungsgeschichte vertreten kann. Nehmen wir zwei der größten Einwanderer*innen-Gruppen in Deutschland: Türkeistämmige und Spätaussiedler*innen. Die Ersten wählen eher linksliberale Parteien, die Zweiten eher Rechtskonservative. Das kann man schwer unter einen Hut bringen. Natürlich haben in beiden Gruppen viele Menschen Erfahrungen mit Diskriminierungen gemacht. Aber das wird nicht ausreichen, um gravierende Meinungsverschiedenheiten bei anderen Themen zu überwinden. Etablierte Parteien – zumindest diejenigen, die für Vielfalt und Gleichberechtigung sind – können viel effektiver gegen Diskriminierung kämpfen.
Bei den etablierten Parteien scheint das Thema Migration aber im aktuellen Wahlkampf in Vergessenheit geraten zu sein. Woran liegt das?
In den letzten fünf bis sechs Jahren war das Thema Migration durch und durch negativ belegt. Debatten über Migration handelten meist von der Belastung für die Wirtschaft oder Gefahren für die Sicherheit. Der Zusammenhang zwischen “Migration” und “Krise” hat sich dadurch verfestigt. Parteien, die für eine inklusive Gesellschaft stehen, wollen die Assoziation nicht wecken, um Wähler*innen nicht abzuschrecken und vermeiden deshalb gerne das Thema.
Führt nicht genau diese Angst dazu, dass rechtspopulistische Parteien die Debatten über Migration dominiert haben?
Ja. Deshalb sollten die etablierten Parteien auf jeden Fall das Thema Migration aktiver ansprechen als sie es jetzt tun. Die Frage ist aber, in welchem Kontext sie über Einwanderung sprechen. Es wäre zum Beispiel sinnvoll, öfter über Migration im Kontext von sozialer Ungleichheit zu sprechen. Von Wohnungsnot und prekären Arbeitsverhältnissen sind aber nicht nur Einwanderer*innen betroffen, sondern auch Geringverdiener*innen, Alleinerziehende und Student*innen. Es wäre deshalb falsch, nur Menschen mit Migrationshintergrund anzusprechen. Migration kann nicht der einzige Fokus sein.
Prof. Dr. HACI-HALIL USLUCAN ist wissenschaftlicher Leiter des "Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung" (ZfTI) an der Universität Duisburg-Essen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Themen Integration, Bildung und kulturvergleichende Psychologie.
Die Parteien sprechen zwar über Vielfalt, in ihren eigenen Reihen sieht es darum noch schlecht bestellt aus. Nach der letzten Bundestagswahl hatten nur acht Prozent der Abgeordneten einen sogenannten Migrationshintergrund. Auch bei den jüngsten Landtagswahlen waren Personen mit Migrationsgeschichte deutlich unterrepräsentiert.
Parteien müssen immer abwägen, welche Kandidat*innen zu welchen Wahlbezirken passen. Nehmen wir eine Stadt wie Münster, in der es konservative und liberale Wähler*innen mit und ohne Migrationsgeschichte gibt. Es kann sein, dass eine bestimmte Kandidatin, sagen wir mal, 50.000 Menschen mit Einwanderungsgeschichte motiviert, wählen zu gehen. Es kann aber auch sein, dass 60.000 ältere Wähler*innen ohne Migrationshintergrund abgeschreckt werden. Zur Politik gehört auch, solche Szenarien abzuwägen. Im Zweifel entscheiden sich die Parteien für die Kandidatin, die die meisten Wähler*innen anspricht – und die hat oftmals keinen Migrationshintergrund. Die Parteien müssten diese Entscheidungsprozesse hinterfragen.
Laut einer Studie der Organisation “More in Common” denkt etwa ein Viertel der Deutschen, dass ein höherer Anteil an Politiker*innen mit Migrationshintergrund schädlich für die Demokratie wäre. Ist das nicht ein Grund, um offensiver mit dem Thema umzugehen, um diejenigen, die so denken, vom Gegenteil zu überzeugen?
Ich finde nicht, dass es ausreicht, wenn Politiker*innen mit einer Einwanderungsgeschichte offensiver auftreten. Vielmehr geht es darum, dass sie nicht mehr Ausnahmeerscheinungen sind, sondern ganz normale Mitglieder der politischen Landschaft. Je öfter Politiker*innen mit einem sichtbaren Migrationshintergrund auf Plakaten und im Fernsehen zu sehen sind, desto normaler wird es für die Wähler*innen, dass Politiker*innen sehr unterschiedliche Hintergründe haben können.
Derzeit fehlt vielen Menschen mit Einwanderungsgeschichte dieses Gefühl von Normalität. Sie sorgen sich, da sie Diskriminierung und rassistische Gewalt erleben. Wie können die etablierten Parteien diese Sorgen ernst nehmen?
In der Politik wird viel über Ängste und Sorgen der Mehrheitsgesellschaft gesprochen und weniger über die Sorgen der Minderheiten. Das führt dazu, dass sich einige Gruppen von der Mehrheitsgesellschaft zurückziehen und nur unter sich bleiben wollen, weil sie sich dadurch sicherer fühlen. Das ist aber keine langfristige Lösung. Denn dadurch werden diese Gruppen noch stärker marginalisiert. Auch aus diesem Grund erscheint mir die Vorstellung, dass sich Migrant*innen nur unter sich politisch organisieren, kontraproduktiv. Vielmehr müssen Einwanderer*innen und Nicht-Einwanderer*innen, als Mitglieder einer gemeinsamen Partei oder zivilgesellschaftlichen Organisation, gemeinsame Interessen artikulieren. Eine inklusive Politik sollte für alle da sein.
Interview: Fabio Ghelli
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