Was besagt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz?
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) soll Menschen vor Diskriminierung schützen. Es trat 2006 in Kraft und gilt für das Arbeitsleben sowie Alltagsgeschäfte, etwa beim Abschluss einer Versicherung oder der Wohnungssuche. Es gilt nicht bei Diskriminierung durch Behörden.
Was ist die Kritik am AGG?
Das AGG steht seit Jahren in der Kritik. Mehrere Publikationen und Berichte von Beratungsstellen zeigen, dass Betroffene ihre Rechte nicht ausreichend geltend machen könnten. Zudem sei das AGG in vielen Bereichen nicht anwendbar. Wichtige Punkte sind:
- Betroffene von Diskriminierung haben 2 Monate Zeit, um diese gegenüber etwa Arbeitgeber*innen oder Vermieter*innen geltend zu machen. Das sei zu kurz, um sich Beratung einzuholen und die Möglichkeiten zu prüfen, gegen die Diskriminierung vorzugehen.
- Das AGG bezieht sich auf Diskriminierungsfälle aufgrund von Alter, Behinderung, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung sowie sexueller Identität. Falls Personen Diskriminierung etwa aufgrund von Sprache oder Staatsangehörigkeit erfahren, können sie auf Basis des AGG nicht dagegen vorgehen.
- Handeln von Behörden und öffentlichen Stellen ist vom Gesetz nicht erfasst. Beratungsstellen erhalten dahingehend viele Anfragen: Rund ein Fünftel der Beratungsanfragen, die die Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2022 erhielt, bezogen sich auf Diskriminierung durch Behörden, Ämter, die Polizei und die Justiz, weitere sieben Prozent auf den Bildungsbereich.Quelle
- Entschädigungszahlungen seien zu niedrig und deshalb weder wirksam noch abschreckend.
Wie könnte eine Reform aussehen?
Ein Bündnis, dem unter anderem viele Beratungsstellen angehören, stellten diesen Jahr einen Katalog mit Forderungen zur Reform des AGG vor. Ähnliche Vorschläge präsentierte die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes sowie mehrere Gutachten. Zentrale Forderungen sind:
- Das AGG soll um weitere Diskriminierungskategorien erweitert werden, konkret genannt werden Sprache, Staatsangehörigkeit, sozialer Status, chronische Krankheit, Gewicht und Fürsorgeverantwortung. Darüber hinaus gibt es Forderungen nach einem offenen Katalog, bei dem neue Kategorien hinzukommen können.
- Im AGG soll auch Diskriminierung durch Behörden und öffentlichen Stellen wie der Bundespolizei aufgenommen werden. Für Landesbehörden (wie die Landespolizeien oder Schulen) müssten die Bundesländer eigene Gesetze erlassen (mehr dazu unten).
- Die Fristen, um Diskriminierungsfälle zu melden, sollten verlängert werden auf mindestens 12 Monate. Laut Beratungsstellen würde das auch dazu führen, dass mehr Zeit ist für außergerichtliche Lösungen.
- Verbände sollten befugt sein, für Betroffene zu klagen. Gefordert wird eine Prozessstandschaft – das heißt, dass Verbände für eine Person klagen können – sowie ein Verbandsklagerecht, das Verbänden ermöglicht, unabhängig von einzelnen Fällen eine Diskriminierung gerichtlich feststellen zu lassen. Für Betroffene sei es laut Verbänden oft schwer zu klagen, unter anderem da es sehr aufwändig ist.
Laut einer Analyse des DeZIM-Instituts 2023 sind sich staatliche und zivilgesellschaftliche Stellen, die in dem Bereich arbeiten, weitgehend einig darüber, welche Bereiche des AGG reformiert werden müssten. Die größten Lücken sehen sie unter anderem bei Diskriminierung durch die Justiz, Ämter sowie in den Bereichen Bildung, Wohnen und Gesundheit, und auch bei künstlicher Intelligenz.Quelle
Was sagen Wirtschaftsvertreter*innen?
Als das AGG 2006 eingeführt wurde, gab es hitzige Debatten um das neue Gesetz. Da viele Regelungen das Arbeitsleben betreffen, kam starke Kritik aus der Wirtschaft. Unternehmen sahen einen Eingriff in die Vertragsfreiheit, fürchteten hohe wirtschaftliche Kosten und viele Klagen.
Inzwischen lehnen Wirtschaftsvertreter*innen das AGG nicht mehr ab und wollen auch das Schutzniveau nicht senken, so die Analyse des DeZIM-Instituts. Sie finden aber, der Diskriminierungsschutz sei größtenteils ausreichend geregelt, Defizite sehen sie vor allem bei Ämtern und Behörden sowie dem Bildungsbereich. Auf Anfrage des MEDIENDIENSTES sagte die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), dass sie die Reformvorschläge der Antidiskriminierungsstelle deutlich ablehne, unter anderem befürchte sie mehr Bürokratie. Insbesondere die Verbandsklage sehe die Vereinigung kritisch.
Gibt es rechtliche Schutzlücken?
Mit der aktuellen Fassung des AGG – so die Einschätzung vieler Fachleute – können Personen, die von Diskriminierung betroffen sind, ihre Rechte nicht oder nur schwer geltend machen und ihnen fehle rechtliche Klarheit. Neben diesen Schutzlücken gibt es rechtliche Umsetzungsfehler, dort ist etwa europäisches Recht nicht ausreichend umgesetzt.
Der Jurist Alexander Tischbirek von der Universität Regensburg hat das AGG mit evaluiert und sagt: „Klar unionsrechtswidrig sind etwa die Regelungen, die konfessionelle Arbeitgeber betreffen. Hier hat der EuGH in mehreren Verfahren geurteilt, dass das AGG den kirchlichen Arbeitgeberinnen zu weite Spielräume belässt, um Personen unterschiedlicher Konfessionen zu diskriminieren.“ Zudem unionsrechtswidrig seien, dass das AGG nicht auf Kündigungen anwendbar sein soll und dass Arbeitgeberinnen keinen Schadensersatz leisten müssen, wenn sie die Diskriminierung nicht verschuldet haben.
"An anderen Punkten ist das AGG zwar nicht offen unionsrechtswidrig, es wären aber Klarstellungen zu wünschen.“, so der Jurist. Dazu gehörten etwa eine Regelung zur Vermietung von Wohnraum: Demnach soll es erlaubt sein, bei der Vergabe von Wohnungen zu benachteiligen, um eine ausgewogene soziale Bewohnerstruktur herzustellen – diese offene Formulierung lasse bei falschem Verständnis unionsrechtswidrige Diskriminierungen zu.
Kein europarechtliches Problem, aber ein Problem in der Praxis seien etwa die Fristen: Eine Diskriminierung muss innerhalb von zwei Monaten geltend gemacht werden. „Der EuGH hat geurteilt, dass diese Fristen grundsätzlich in Ordnung gehen. Praktisch bedeutet dies ein massives Rechtsschutzhindernis. Betroffene haben kaum Zeit, sich über ihre Rechte zu informieren. Auch bedarf es gerade im Arbeitsverhältnis einer gewissen Bedenkzeit, bevor man sich zu rechtlichen Schritten gegen die eigene Chefin durchringen mag.“
Die Fristen im AGG seien zudem im Vergleich zu anderen Regelungen untypisch kurz. Bei anderen Persönlichkeitsrechtsverletzungen gebe etwa das Bürgerliche Gesetzbuch eine Frist von immerhin drei Jahren. Tischbirek dazu: "Es sei völlig unklar, warum Diskriminierungen im AGG so viel strenger behandelt werden."
Was hat die Ampel-Koalition vor?
Die Ampel-Koalition hat vereinbart, das AGG anzupassen. Bisher liegt kein Gesetzentwurf vor, auf Anfrage des MEDIENDIENST beim Justizministerium heißt es, eine Gesetzesänderung solle bis Ende der Legislaturperiode verabschiedet werden. Wann der erste Entwurf vorliegen wird, sei noch nicht klar. Auch unklar bleibt, welche Forderungen die Regierung aufgreifen wird. Forderungen der Antidiskriminierungsbeauftragten hatten von Seiten der FDP-Fraktion teils heftige Kritik erhalten.
Was passiert auf Ebene der Bundesländer?
2020 verabschiedete Berlin als erstes Bundesland ein eigenes Antidiskriminierungsgesetz (LADG). Ziel des Gesetzes ist es, Personen vor Diskriminierung durch Landesbehörden zu schützen: Etwa vor Racial Profiling durch Polizist*innen, vor Diskriminierung durch Schulbehörden oder das Jugendamt. Eine neue Umfrage des MEDIENDIENSTES unter den Bundesländern zeigt: Mittlerweile sind in fünf weiteren Bundesländern Gesetze in Planung. Wie es um die Pläne steht – und wie es mit dem LADG in Berlin läuft, finden Sie hier:
Im Fokus: Landesantidiskriminierungsgesetze
Mit dem Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz:
- steht Betroffenen Schadenersatz zu.
- müssen Betroffene nicht selbst klagen, sondern Verbände können das für sie übernehmen (Verbandsklagerecht).
- gilt eine Beweislasterleichterung: Die betroffene Person muss vor Gericht glaubhaft machen – und nicht vollständig beweisen –, dass sie Diskriminierung erlebt hat. Wenn das gelingt, muss die andere Seite beweisen, dass sie nicht diskriminiert hat. Auch im AGG ist das so geregelt. Es handelt sich nicht um eine Beweislastumkehr.
- wurde eine Ombudsstelle eingerichtet: Sie berät Betroffene, vermittelt in Streitfällen und kann Gutachten einholen. Die Behörden müssen der Stelle Auskunft geben.
- verpflichtet sich Berlin zur "Wertschätzung von Vielfalt" in der Verwaltung.
Zivilgesellschaftliche Organisationen lobten das LADG. Vehementer Protest kam von Polizeigewerkschaften, sie warnten vor Klagewellen. Die ersten Erfahrungen aus Berlin zeigen: die Klageflut bleibt aus: Der Ombudsstelle sind vier Gerichtsverfahren bekannt, in denen zuvor eine Beschwerde bei ihr eingereicht wurden, so die Stelle auf Anfrage des MEDIENDIENSTES. Zwei betreffen rassistische Diskriminierung, eine durch die Polizei und eine durch die Berliner Verkehrsbetriebe (Stand August 2023). Die Polizeiarbeit wurde durch das LADG nicht beeinträchtigt, so der Pressesprecher der Berliner Polizei 2021 auf einem Pressegespräch des MEDIENDIENSTES.
Insgesamt gingen bei der Berliner Ombudsstelle zwischen Januar 2023 und Ende Juli 2023 insgesamt 590 Beschwerden ein – 64 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. 241 Beschwerden bezogen sich auf das LADG, für 349 war die Stelle nicht zuständig. Über ein Drittel der LADG-Beschwerden waren zum Thema Rassismus, rund ein Viertel zum Thema Behinderung, und 12 Prozent zum Thema Geschlecht. Viele Beschwerden bezogen sich auf den Bereich Bildung. Im Gesamtjahr 2022 gingen bei der Ombudsstelle 645 Beschwerden ein (2021: 613).
Die Beschwerden bezogen sich vor allem auf Bezirksämter und das Bildungswesen sowie Anstalten des öffentlichen Rechts wie die Verkehrsbetriebe. 16 Beschwerden betrafen die Polizei, ein Drittel bezog sich auf rassistische Diskriminierung, gefolgt durch die Diskriminierung wegen Behinderung/chronischer Erkrankung sowie Geschlecht.Quelle
Wie sieht es in anderen Bundesländern aus?
Mehrere Bundesländer könnten nachziehen, das zeigt eine Umfrage des MEDIENDIENSTES im August 2023 unter den zuständigen Ministerien. Mittlerweile haben fünf Landesregierungen im Koalitionsvertrag vereinbart, ein LADG einzuführen.
Vor 2 Jahren hatten das bereits Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz geplant, nun haben sich auch die Koalitionen in Niedersachsen, NRW und Bremen darauf geeinigt. In Baden-Württemberg soll das Gesetz 2023 verabschiedet werden. Sachsen, Brandenburg und Hessen haben ein Gutachten erstellen lassen: Sachsen hat im Anschluss Abstand von der Einführung eines LADG genommen, in Hessen bleibt offen, was die nächste Regierung nach der Wahl plant, in Brandenburg fehlen die Haushaltsmittel für die Umsetzung.
Keine LADGs planen Bayern, das Saarland, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen. Manche Länder verweisen darauf, dass der Diskriminierungsschutz ausreichend durch das Grundgesetz sowie die Landesverfassung gedeckt sei.
Gibt es Schutzlücken?
Der Berliner Senat setzt nach eigenen Angaben mit dem LAGD eine europarechtliche Vorgabe um und schließt eine Gesetzeslücke. Andere Bundesländer sehen hingegen keine Lücke. Bayern und Sachsen-Anhalt verweisen beispielsweise darauf, dass das Diskriminierungsverbot im Grundgesetz ausreichend sei.
Laut Fachleuten bestehen Schutzlücken zu EU-Vorgaben im Bildungsbereich: Die Antirassismusrichtlinie der EU sieht vor, dass die Mitgliedsstaaten rassistische Diskriminierung bekämpfen müssen – unter anderem im Arbeitsleben und in der Bildung. Das Arbeitsleben ist durch das AGG abgedeckt, das Bildungssystem aber nicht. Ein weiteres Defizit zu EU-Vorgaben bestehe in der Beweislasterleichterung. Betroffene müssen demnach allein bestimmte Indizien glaubhaft machen, dass die Diskriminierung vorliegt. Gelingt das, muss die andere Seite das Gegenteil belegen, nämlich das keine Diskriminierung gegeben ist.Quelle
Quellen
Bartsch und Aalders (2023): "Diskriminierungsschutz zwischen Kontinuität und Wandel", DeZIM Working Papers, S. 30f., LINK
Berghahn/Klapp/Tischbirek (2016): "Evaluation des AGG", LINK;
Beckmann, Stosch (2021): "Reformbedarf im Diskriminierungsschutz", Policy Paper der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V., LINK und Berichte von Beratungsstellen
Stellungnahme von 100 Organisationen zur AGG-Reform, LINK
Von Andrea Pürckhauer
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