Ende November 1993 erschien das "Manifest der 60". Bis heute ist die Publikation mit ihrer Forderung an die Politik einmalig und gehört zur Standardliteratur der Migrationsforschung. Sie war eine empörte Reaktion der Wissenschaft auf die Ereignisse und Situation in Deutschland. Initiator war der Direktor des Osnabrücker Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), Klaus J. Bade. In einem Essay für den Mediendienst beschreibt er die Situation von damals und welche Punkte er heute noch fordert.
Rückblick
Die 1990er Jahre starteten mit der sogenannten Asyldebatte und gewaltsamen Übergriffen wie die Brandanschläge in Rostock Lichtenhagen, Mölln und Solingen auf Asylbewerberunterkünfte und Wohnhäuser von Einwanderern. Das kam nicht von ungefähr, erklärt Bade und bezeichnet die 80er Jahre als "in der politischen Gestaltung verlorenes Jahrzehnt" – zumindest auf Bundesebene. Im kommunalen Alltagserleben sei Integration stetig vorangeschritten, doch auf Bundesebene fehlte es an Konzepten. Hier wurde weiterhin darauf beharrt, dass Deutschland "kein Einwanderungsland" sei und auch nicht werden dürfe. Mit weitreichenden Konsequenzen bis heute, wie Bade erklärt.
Besonders die Asyldebatte habe "eine gefährliche Mischung von Wut und Angst" provoziert. 1989 bis 1992 wurden in Deutschland rund eine Million Asylsuchende gezählt. Nur ca. 5 Prozent der Antragsteller wurden im engeren Sinn als "politisch verfolgt" anerkannt und für asylberechtigt erklärt. Diese Quote verwendeten Asyl- und Einwanderungsgegner häufig für ihre Argumentation: Das von Politikern und Medien in Umlauf gebrachte Argument, die abgelehnten 95 Prozent der Antragsteller seien "Wirtschaftsflüchtlinge", bezeichnet Bade als "Demagogie".
"Bedrohungsvisionen von gewaltigen ‚Strömen‘ und ‚Fluten‘ zunächst aus dem Osten Europas, dann möglicherweise auch aus dem Süden der Welt, schienen konkrete Gestalt anzunehmen." Die Warnung vor zu viel Einwanderung gepaart mit der Konzeptlosigkeit sei der Zündstoff für fremdenfeindliche Aggressivität gewesen, "die Pogromstimmung entlud sich in gewalttätigen Ausschreitungen".
Das Manifest
Auf diese Probleme sollte das Manifest der Sechzig antworten. Dafür analysierten zehn Autoren die aktuellen und erwartbaren Probleme im Zusammenhang mit globalen Wanderungsentwicklungen. Das Buch war eine Forderung nach politischen Konzepten und bot konkrete Anregungen dazu. Neben Historiker und Migrationsforscher Klaus J. Bade wirkten mit: der Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz, der Migrationssoziologe Friedrich Heckmann, die Bildungsforscherin Ursula Boos-Nünning, die Politikwissenschaftler Claus Leggewie, Dieter Oberndörfer und Peter J. Opitz, die Rechtswissenschaftler Otto Kimminich und Michael Wollenschläger sowie der Wirtschaftswissenschaftler Meinhard Miegel.
Das Manifest erregte in Fachkreisen großes Aufsehen und wurde von Medien aufgegriffen. Von der Politik wurde es zwar laut Bade zur Kenntnis genommen, nach außen hin jedoch weitestgehend "totgeschwiegen". Deshalb brachte er eine "erweiterte Manifest-Gruppe" zusammen, die 1998 zum "Rat für Migration" zusammentrat. Dieser meldete sich immer wieder mit öffentlichen Stellungnahmen zu Wort und brachte bis 2010 alle zwei Jahre einen Migrationsreport heraus. 2009 gab Klaus J. Bade den Anstoß zum "Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration", von dessen neun Gründungsmitgliedern sechs dem Rat für Migration angehörten.
20 Jahre danach
"Heute ist vieles anders als zur Entstehungszeit des Manifests der Sechzig", schreibt Bade. So sei Migrationsforschung nicht länger eine "belächelte Insel in der Wissenschaftslandschaft", sondern ein national und international anerkanntes Feld mit zahlreichen Forschungsrichtungen.
Auch in der Politik habe sich Grundlegendes verändert: "Migration und Integration sind politische Mainstream-Themen geworden." Lange überfällige politische, legislative und administrative Entscheidungen wurden getroffen. "Das geschah freilich oft mit folgenreichen historischen Verspätungen und in mühsamen politischen Stolperschritten", schreibt Bade. Als Beispiele nennt er die Reformen des Staatsangehörigkeitsrechts (2000), das Zuwanderungsgesetz (2005), die Hochqualifizierten-Richtlinie und das Anerkennungsgesetz (2012). Die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union ergebe inzwischen neue Fragestellungen, "migrationspolitische Steuerungsoptionen beschränken sich fast nur mehr auf Drittstaaten." Gleichzeitig würden die nationalstaatlichen Handlungsspielräume durch die Einbettung in die EU eingeschränkt.
Das Manifest der Sechzig sei mit Blick auf seinen Untertitel "Deutschland und die Einwanderung" jedoch auch zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen noch eine Mahnung mit vielen offenen Positionen geblieben:
- Statt erkennbarer Akzeptanz der Einwanderungsgesellschaft und einer entsprechenden Kommunikation darüber verschanze sich Politik immer noch häufig hinter populistischen Abwehrgesten und "symbolischen Inszenierungen einer ‚Willkommenskultur‘, die meist nur Willkommenstechnik für Neuzuwanderer ist". Zudem gehe es heute nicht mehr um Integrationspolitik für Migranten, sondern um teilhabeorientierte Gesellschaftspolitik für Alle. Dafür jedoch lägen nach wie vor keine Konzepte vor.
- Laut Bade fehlt zudem eine konzeptorientierte Einwanderungspolitik. "Das muss mehr sein als die nach langem Zögern und Zaudern gnädig erleichterte Zulassung von begehrten und für besonders passfähig gehaltenen qualifizierten bzw. hochqualifzierten Zuwanderern."
- Beim Thema Asylgewährung und Asylpolitik seien die Baustellen nur wenig vorangekommen: Die Vorschläge des Manifests, etwa nach einer quotierten Einwanderung, seien nicht berücksichtigt.
Bade resümiert:
"Das Manifest der Sechzig ist nach alldem zwar in manchen seiner konkreten Forderungen heute ein eher historisches Dokument, das vor dem Hintergrund seiner zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen gesehen werden muss. Im Blick auf seine grundlegenden Denkanstöße aber ist es bis heute eine weithin unerfüllte politische Herausforderung geblieben."
Den gesamten Text von Klaus J. Bade können Sie hier herunterladen. 2013 ist von ihm das Buch erschienen "Kritik und Gewalt: Sarrazin-Debatte, 'Islamkritik' und Terror in der Einwanderungsgesellschaft", Wochenschau Verlag.
Von Ferda Ataman
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