Seit Jahren forschen Çinur Ghaderi und Esther Almstadt zu Kurd*innen in Deutschland. Was ist über diese Gruppe bekannt? Welche Erfahrungen machen sie in Deutschland mit Rassismus und wie berichten Medien über Kurd*innen? In einer Expertise für den MEDIENDIENST präsentieren die Wissenschaftlerinnen exklusiv Ergebnisse ihrer laufenden Forschung.
Die Ergebnisse im Überblick:
- In Deutschland leben schätzungsweise 1,3 Millionen Kurd*innen. Sie sind damit eine der größten Einwanderergruppen Deutschlands.
- Alle Befragten der vorliegenden Studie berichten von Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen gegenüber Kurd*innen in Deutschland.
- Kurd*innen und ihre Erfahrungen bleiben in Deutschland weitgehend unsichtbar.
- Deutsche Leitmedien berichten über Kurd*innen in Deutschland am häufigsten in Zusammenhang mit („Clan“-)Kriminalität und Gewalt.
Die vollständige MEDIENDIENST-Expertise "Kurden in Deutschland" von Prof. Dr. Çinur Ghaderi und Prof. Dr. Esther Almstadt finden Sie hier (PDF).
Wie viele Kurd*innen in Deutschland leben, wird statistisch nicht erfasst. Einer neuen Schätzung der Autorinnen der Expertise zufolge sind es mittlerweile 1,3 Millionen Personen. Damit gehört die kurdischstämmige Bevölkerung zu den größten Einwanderergruppen in Deutschland.Quelle
Da es keinen kurdischen Staat gibt, besitzen Kurd*innen entweder die deutsche Staatsangehörigkeit, die Staatsangehörigkeit ihres Herkunftslandes (etwa Türkei oder Irak) oder sind staatenlos.
Herkunftsländer
Kurd*innen sind vornehmlich aus der Türkei nach Deutschland eingewandert, aber auch aus dem Irak, Syrien und Iran. Ein kleinerer Teil kommt aus dem Libanon, Israel und ehemaligen Sowjetrepubliken wie Armenien, Aserbaidschan und Georgien. Als Geflüchtete sind in den vergangenen Jahren vor allem kurdische Menschen aus Syrien und dem Irak eingewandert, seit 2022 vermehrt aus der Türkei.
Kurden leben säkular
Es gibt keine verlässlichen Daten über die Religion der in Deutschland lebenden Kurd*innen. Die meisten sind sunnitische Muslime, es gibt aber auch Aleviten, Eziden, Faily-Schiiten, Christen, Juden, Zardaschti oder Ahl-i Haqq. Die größte ezidische Community außerhalb der Herkunftsländer lebt in Deutschland. Ein Großteil der Kurd*innen in Deutschland lebt säkular. Das liegt insbesondere an der starken politischen kurdischen Bewegung, die für viele Kurd*innen einen stärkeren Ankerpunkt als die Religion darstellt.
Wie und wo leben Kurden in Deutschland?
Kurd*innen leben vorzugsweise in den Großstädten der West-Bundesländer, nach Möglichkeit in der Nähe von Verwandten oder Communities ihrer Herkunftsregion. Sie arbeiten häufig in körperlichen Berufen und im Kleingewerbe, insbesondere im Handel und im Dienstleistungssektor. Bei Existenzgründungen handelt es sich oft um Familienbetriebe, die von Reisebüros, Transportunternehmen und Lebensmittelgeschäften bis hin zu Schönheitssalons und Friseursalons reichen. Daneben gibt es eine Elite von akademischen Berufen und Künstler*innen. Kurdischstämmige Abgeordnete sind sowohl auf kommunaler als auch auf Landes- und Bundesebene vertreten.
Alle Befragten berichten von Rassismuserfahrungen
In einem aktuellen Forschungsprojekt hat Çinur Ghaderi zentrale Akteur*innen befragt, welche Erfahrungen sie mit antikurdischem Rassismus machen. Alle Befragten berichten von beobachteten oder selbst erlebten Rassismuserfahrungen im Alltag. Dazu gehören Beleidigungen, Hassnachrichten, Benachteiligungen am Arbeitsplatz und in Asylunterkünften sowie gewaltsame Übergriffe und Morddrohungen. Verbreitet sind Vorurteile, die Kurd*innen als unwissend, wild, gewaltaffin und kriminell abwerten.Quelle
Diese Stereotype zeigen sich auch auf institutioneller Ebene. Einige Beispiele: Kurdische Vereine berichten von Problemen bei Förderanträgen. Seit 1994 werden Daten zu kurdischen Vereinen automatisch an Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt übermittelt. Informationsmaterialien zur Covid-19-Pandemie wurden zunächst nicht ins Kurdische übersetzt.
Diskriminierungserfahrungen von Kurd*innen bleiben oft unsichtbar. Ein Beispiel sind Medienberichte über den rassistischen Anschlag in Hanau. Dort wurden kurdische Opfer unter türkischer Flagge betrauert, kurdische Repräsentant*innen wurden vermieden oder waren unerwünscht.
Gewalt und "Clankriminalität": Medien berichten negativ
Wenn deutsche Leitmedien über Kurd*innen berichten, geht es oft um sogenannte Clankriminalität oder Gewalt. Das zeigt eine laufende Medienanalyse von Esther Almstadt. Ein Drittel der Artikel, die sie unter dem Suchwort "Kurden" untersucht hat, behandeln diese Themen. Ebenfalls häufig wird über die Integrationsbereitschaft und Integrationserfolge von Kurd*innen berichtet – knapp ein Viertel der bislang untersuchten Artikel behandeln diese Themen.Quelle
Von Miriam Kruse, Grafiken: Darius Adu-Bright, Carsten Wolf und Sophie Thieme
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