Hinweis: Eine neuere Expertise von Dr. Jaraba zusammen mit einem Kurz-Video und einem Artikel ist am 26. Juni 2024 auf der Mediendienst-Website hier erschienen. Zur neueren Expertise hier (PDF).
Der Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba hat in seiner Feldforschung den Alltag von Angehörigen arabisch-türkischer Großfamilien begleitet und dazu eine Expertise für den MEDIENDIENST erstellt. Zusätzlich sprach er mit Vertreter*innen von Polizei, Behörden und Sozialarbeit. Seine Forschung zeigt: Viele Bilder über die "Clans" sind nicht richtig – so etwa die Vorstellung von einheitlichen "Clans" mit einem "Clan"-Oberhaupt.
Zur Expertise Arabisch-türkische Großfamilien: Familienstruktur und "Clankriminalität" (PDF)
Zentrale Ergebnisse:
- Die ursprünglich nahen Verwandtschaftsverhältnisse der Großfamilien haben sich über die Jahrzehnte ausdifferenziert. Heute kennen sich die meisten Familienmitglieder untereinander nicht, sie sind keine zusammenhängende, homogene Gruppen. Es gibt auch keine zentrale Führungsperson des jeweiligen Gesamt-"Clans".
- Anders als medial und polizeilich dargestellt findet Kriminalität nicht innerhalb der Großfamilie statt, sondern innerhalb von "Sub-Sub-Clans". Auf dieser Ebene gibt es starke Solidaritäts- und Zusammengehörigkeitsgedanken und auch zentrale Führungspersonen.
- Nur wenige Angehörige der Großfamilien sind kriminell, aber sie erhalten überproportional viel Aufmerksamkeit von Medien und Politik und suchen diese oft auch aktiv.
- In Deutschland erleben die Familienmitglieder viel Ausgrenzung und erhebliche Diskriminierung im Alltag, in der Schule, auf dem Arbeits-, Ausbildungs- und Wohnungsmarkt sowie durch die Polizei.
In einer weiteren Expertise für den Mediendienst 2021 zeichnet Jaraba die Geschichte der Großfamilien in den Herkunftsländern und Deutschland nach. Sein Fazit: Nur wenige Angehörige sind kriminell. Diese erhalten aber viel Aufmerksamkeit durch Medien und Politik. In der Expertise gibt es auch eine Einordung zu den Lageberichten der Landeskriminalämter und dem Begriff "Clankriminalität".
Familienstruktur: Kein einheitlicher "Clan" und kein "Clan"-Oberhaupt
Die "Clans" haben sich im Verlauf der Zeit stark verändert. Vor hundert Jahren waren die "Clans" noch überschaubar und hatten eine zentrale Führung. Mittlerweile haben die einzelnen "Clans" zahlreiche Sub-Gruppen und Sub-Sub-Gruppen (sogenannte bayt).
Was unter "Clans" in öffentlichen Debatten verstanden wird, sind oft Gruppen von mehreren hundert oder tausend Personen. Die haben zwar denselben Nachnamen, viele Angehörige kennen sich aber nicht, arbeiten nicht zusammen und halten auch nicht zusammen. Es gebe deswegen auch kein Oberhaupt, welches zentrale Autorität innehabe, so Jaraba. Wenn es Strukturen des Zusammenhalts gebe – in denen teilweise auch Kriminalität stattfindet – passiert das laut Jaraba auf der Ebene der Sub-Sub-Gruppen. Dort gebe es eine ausgeprägte Solidarität und es werde von Mitgliedern erwartet, dass sie sich in Konflikten unterstützen. Sie sind aber völlig autonom vom "Gesamt-Clan".
Wenn Familienmitglieder miteinander kriminell werden, passiere dies innerhalb der Kernfamilie oder des bayt, und nicht im "Clan", so die Analyse Jarabas. Er betont, dass nur manche Mitglieder eines bayts die Aktivitäten anderer Familienmitglieder decken, kriminell werden und dies in manchen Fällen gar als ihren "Beruf" betrachten. Die Mehrheit der Familienangehörigen ist weder kriminell, noch unterstützten oder verschleiern sie die Kriminalität von anderen Familienmitgliedern. Sie äußern scharfe Kritik an den kriminellen Aktivitäten und fordern den Staat auf, dagegen vorzugehen.
Manche Angehörige der "Clans" beschwören eine Clan-Identität. Sie ist Jaraba zufolge aber eher symbolischer Natur. Die hohe mediale Aufmerksamkeit scheinen manche Mitglieder zu genießen und zelebrieren diese sogar.
Kein Vertrauen in staatliche Institutionen und Diskriminierungserfahrungen
Viele Familienmitglieder haben kein Vertrauen in die Sicherheitsbehörden. Sie haben den Eindruck, dass Polizei und die Justiz ihnen gegenüber voreingenommen seien. Jaraba legt dar, dass sie sich ungerecht behandelt fühlen, da das Fehlverhalten anderer Personen mit demselben Nachnamen auf sie übertragen werde.
Gerade durch die Verbreitung der Familiennamen im Zusammenhang mit "Clankriminalität" erfahren viele Angehörige Ablehnung bei der Suche nach einer Wohnung oder einem Ausbildungsplatz. Das erfuhr Jaraba aus Interviews mit Familienmitgliedern.
"Clankriminalität" in Lageberichten & Zusammenhang zu "Organisierter Kriminalität"
Die Landeskriminalämter (LKAs) Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sowie das Bundeskriminalamt (BKA) erstellen seit einigen Jahren Lageberichte zum Thema "Clankriminalität". Dieser Fokus entstand in der ersten Hälfte der 2000er Jahre: Damals gründeten die LKAs Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Bremen und Berlin eine Projektgruppe zu kriminellen Aktivitäten von Angehörigen von Familien "türkisch-arabischer Herkunft" aus der türkischen Provinz Mardin (sogenannte Mhallamiye-Kurden). Die Projektgruppe erarbeitete eine Liste von "Clan-Namen". Diese Namensliste wurde die Grundlage für spätere Lagebilder. Seit 2018 haben die LKAs Niedersachsen und Berlin ihre Polizeiarbeit in Bezug auf "Clankriminalität" über die Gruppe der "Mhallamiye-Kurden" hinaus erweitert und erfassen auch Personen anderer Nationalitäten. Die Polizei NRW konzentriert sich hingegen weiterhin ausschließlich auf die Mhallamiye.
"Clankriminalität" wird in den Lageberichten als Unterkategorie von "Organisierter Kriminalität" (OK) aufgeführt. Auch die für "Clankriminalität" zuständigen Dezernate sind in der Regel Dezernate in der Abteilung OK. Tatsächlich ist "Clankriminalität" aber keine Unterkategorie von OK und wird auch von den Kriminalämtern nicht als solche angesehen. Die häufigsten Straftaten sind die aus der Kategorie Verkehrsstraftaten oder Verstöße gegen das Corona-Infektionsschutz-Gesetz.
Was müsste sich ändern?
Der Begriff "Clankriminalität" müsste anders verwendet werden, fordert der Politikwissenschaftler: Organisierte Kriminalität dürfe nicht in Zusammenhang gebracht werden mit Straftaten wie Verkehrsdelikten oder Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetz. Zudem sei es nicht richtig, sich auf die Großfamilien zu fokussieren. Denn wenn Kriminalität passiere, geschehe dies auf Ebene der bayts. Zudem brauche es mehr Prävention: Jaraba zufolge gibt es bisher keine strategischen Präventionsprojekte. Es sei wichtig, dass es entsprechende Programme gebe, die sich unter anderem an Schulen und Familien richten.
Von Donata Hasselmann und Andrea Pürckhauer
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