Die Innenministerien und Polizeibehörden von Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen haben in den letzten Jahren "Clankriminalität" als Schwerpunktthema etabliert. Im Rahmen der "Politik der 1000 Nadelstiche" führt die Polizei zahlreiche Maßnahmen durch, wie etwa Personen- und Gewerbekontrollen und Razzien. Seit 2018 veröffentlicht Nordrhein-Westfalen jährlich ein "Lagebild Clankriminalität", Niedersachsen seit 2019, Berlin seit 2020.Quelle
Eine Analyse der "Lagebilder" sowie Antworten der zuständigen Innenministerien und Landeskriminalämter auf Anfrage des Mediendienst Integration zeigen:
- "Clankriminalität" ist weder gleichzusetzen mit Organisierter Kriminalität, noch ist es eine Unterkategorie von Organisierter Kriminalität.
- Die als "Clankriminalität" zusammengezählten Straftaten machen in den drei Bundesländern zwischen 0,17 und 0,76 Prozent aller Straftaten aus.
- Die Polizeiarbeit und die Lagebilder in Berlin und NRW fokussieren auf bestimmte migrantische Bevölkerungsgruppen.
Kriminologen und Juristen zufolge ist die Polizeipraxis verfassungsrechtlich bedenklich. Die Bekämpfung von Kriminalität werde durch die "Clankriminalität"-Herangehensweise sogar uneffektiver.
Zum vollständigen Factsheet hier: "Factsheet Clankriminalität: Polizeiarbeit und Lagebilder" (PDF-Download)
Fokus auf bestimmte Bevölkerungsgruppen
"Clankriminalität" ist eine Kategorie, mit der die Polizei Ordnungswidrigkeiten und Straftaten von Personen, die bestimmten Bevölkerungsgruppen angehören, zusammenfasst. "Clan" wird dabei definiert als "Gruppe von Personen, die durch eine gemeinsame ethnische Herkunft, überwiegend auch verwandtschaftliche Beziehungen, verbunden ist" (Niedersachsen) bzw. als "informelle soziale Organisation, die durch ein gemeinsames Abstammungsverständnis ihrer Angehörigen bestimmt ist" (Berlin und NRW).Quelle
Berlin und NRW konkretisieren in ihren Lagebildern zudem explizit, welche "gemeinsamen Abstammungsverständnisse" gemeint sind: Demnach liegt der Fokus auf arabischstämmigen, türkisch-arabischstämmigen, Mhallami-kurdischen, libanesischen und palästinensischen Personen, denen eine "Clan"-Zugehörigkeit zugeschrieben wird. Genauere Informationen zum Fokus auf einzelne Bevölkerungsgruppen finden Sie im Factsheet (PDF) ab Seite 2.Quelle
"Clankriminalität" ist keine Organisierte Kriminalität
Clankriminalität" wird regelmäßig als Organisierte Kriminalität (OK) beschrieben – sowohl von den Innenministerien der Bundesländer und des Bundes, als auch von Parteipolitiker*innen und Journalist*innen.Quelle
Die Lageberichte "Clankriminalität" zeigen jedoch: "Clankriminalität" ist weder gleichzusetzen mit Organisierter Kriminalität, noch ist es eine Unterkategorie davon. Organisierte Kriminalität (OK) bedeutet, dass sich mehrere Personen über längere Zeit zusammentun, um Straftaten von erheblicher Bedeutung zu begehen. "Clankriminalität" hingegen umfasst gemäß den Lagebildern der Bundesländer alle möglichen Verstöße gegen Straftat- und Ordnungswidrigkeitstatbestände von Personen, die als „Clan“-zugehörig markiert werden – egal, ob die Tat alleine oder gemeinsam begangen wird und unabhängig von der Schwere des Vergehens. Zwar werden zur „Clankriminalität“ auch OK-Verfahren gezählt – diese stellen aber nur einen kleinen Anteil von „Clankriminalität“ dar. Den Hauptteil machen Ordnungswidrigkeiten, Verkehrsdelikte und Allgemeinkriminalität aus. Quelle
Für die drei Bundesländer ergibt sich aus den neuesten Lagebildern (2022) folgendes Bild:
Berlin: In Berlin wurden unter "Clankriminalität" zusammengefasst:
• 9 OK-Verfahren (davon 2 aus dem aktuellen Berichtsjahr, 7 fortgeführte aus dem Vorjahr),
• 872 Straftaten der Allgemeinkriminalität – davon 14 % Verkehrsstraftaten – und
• 89 Ordnungswidrigkeiten.Quelle
NRW: In NRW wurden unter "Clankriminalität" zusammengefasst:
• 14 OK-Verfahren (davon 3 aus dem aktuellen Berichtsjahr, 11 fortgeführte aus dem Vorjahr),
• 6.573 Straftaten der Allgemeinkriminalität – davon 10,5 % Verkehrsstraftaten – und
• 2.357 Ordnungswidrigkeiten.Quelle
Niedersachsen: In Niedersachsen wurden unter "Clankriminalität" zusammengefasst:
• 10 OK-Verfahren,
• 3.986 Straftaten der Allgemeinkriminalität und
• 529 Ordnungswidrigkeiten.Quelle
Mehr dazu dazu finden Sie im Factsheet (PDF) ab Seite 3.Quelle
"Clankriminalität" stellt minimalen Anteil an Gesamtkriminalität dar
"Clankriminalität" wird regelmäßig als zentrales Sicherheitsproblem Deutschlands dargestellt. Ein Vergleich der "Clankriminalität" mit den regulären Polizeilichen Kriminalitätsstatistiken (PKS) der Bundesländer zeigt allerdings: Alle als "Clankriminalität" kategorisierten Straftaten machen zusammengezählt nur einen minimalen Anteil der Kriminalität im jeweiligen Bundesland aus.
- In Berlin 0,17 Prozent
- In NRW 0,48 Prozent
- In Niedersachsen 0,76 Prozent.Quelle
Hinzu kommt: Die Zahlen der PKS und die als "Clankriminalität kategorisierten Straftaten sind nicht unmittelbar vergleichbar. Die tatsächlichen Prozentsätze der "Clankriminalität" dürften noch niedriger liegen. Mehr dazu dazu finden Sie im Factsheet (PDF) ab Seite 5.Quelle
Das „Sicherheitsgefühl der Bevölkerung“ als Maßstab
Das oben dargelegte Missverhältnis zwischen behaupteter und tatsächlicher Größe des Sicherheitsproblems bestätigt das Innenministerium Niedersachsen im Lagebild explizit: "Kriminelle Clanstrukturen sind in Niedersachsen präsent. Wenngleich sie quantitativ sowohl in Bezug auf die Tatverdächtigen und Beschuldigten als auch in Bezug auf die Ermittlungsverfahren bei Betrachtung des Gesamtvolumens krimineller Handlungen in absoluten Zahlen kaum ins Gewicht fallen, beeinträchtigen sie das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung und fordern die Strafverfolgungsbehörden in einem besonderen Umfang. Hier besteht ein deutliches Missverhältnis zwischen ihrer zahlenmäßigen, statistischen Präsenz und der ihnen im Rahmen von Einsatzbewältigungen zu widmenden Aufmerksamkeit."Quelle
Mehr dazu, auch zu Berlin und NRW, finden Sie im Factsheet (PDF) ab Seite 5.Quelle
Verfassungsrechtliche Bedenken
Im Jahr 2022 unternahm die Berliner Polizei 783 Maßnahmen im Bereich der "Clankriminalität", in NRW waren es im selben Zeitraum mindestens 625 Verbund-Kontrolleinsätze. Dazu gehören etwa Personenkontrollen, Gewerbekontrollen und Razzien. Niedersachsen konnte keine Zahlen zu Maßnahmen im Bereich "Clankriminalität" nennen.Quelle
Diese polizeilichen Maßnahmen sind laut Dr. Doris Liebscher rechtlich als Grundrechtseingriffe in den Artikel 3 Grundgesetz einzuordnen. Liebscher ist Verfassungsrechtlerin und Leiterin der Ombudsstelle für das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz. Um einen solchen Eingriff zu rechtfertigen, müsse die Polizei mit empirischen Daten konkret darlegen, dass genau diese Bevölkerungsgruppe eine erhöhte Straffälligkeit aufweise. Das macht die Polizei laut Liebscher in den "Lagebildern Clankriminalität" aber nicht. Im Gegenteil: Der überwiegende Teil der Anzeigen betreffe Verkehrsordnungswidrigkeiten, Straftaten gegen das Betäubungsmittelgesetz und Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz. Das zeigten die Zahlen aus den Lagebildern, aus kleinen parlamentarischen Anfragen und einer Studie zur Gewerbeüberwachung. Aus diesen Daten ergebe sich keine erhöhte Straffälligkeit der betroffenen Bevölkerungsgruppen. "Wenn das 'Gefühl der Bevölkerung' und nicht eine echte Faktenlage ausschlaggebend ist, dann ist das rechtswidrig" so Liebscher.Quelle
Genauere Informationen dazu finden Sie im Factsheet (PDF) ab Seite 7.Quelle
Fragliche Effektivität von ethnisierender Herangehensweise
"An Ethnien anzuknüpfen ist nicht nur rechtlich problematisch, es ist auch polizeilich nicht effektiv" sagt die Kriminologin Daniela Hunold. Sie arbeitet seit vielen Jahren zum Thema "Clankriminalität". Von 2019 bis 2022 war sie im Landeskriminalamt Bremen tätig, wo sie unter anderem mit der Analysestelle Clankriminalität zusammenarbeitete. Sie sagt: "Suggeriert wird hier ja, dass es für die Kriminalität, die von Angehörigen der als "Clans" bezeichneten Großfamilien begangen wird, eine bestimmte polizeiliche Herangehensweise bräuchte, nämlich eben die der "Clankriminalitäts"-Bekämpfung. Das kann ich aus polizeilicher und kriminologischer Perspektive nicht bestätigen."
Laut Hunold gibt es genügend bestehende Instrumente, um Straftaten zu ahnden: "Es gibt Straftatbestände gegen organisierte Kriminalität, gegen Bandenkriminalität, gegen Allgemeinkriminalität. Es gibt auch Forschung und Praxisempfehlungen zum sogenannten "family based crime", also wie man polizeilich damit umgehen kann, wenn die Familie eine besondere Rolle bei der Begehung von Straftaten spielt. Diese Instrumente kann man nutzen, um effektive Polizeiarbeit zu machen – ohne zu ethnisieren" so Hunold. In der Polizei gibt es laut Hunold viele Polizisten und Polizistinnen, die das Konstrukt der "Clankriminalität" sehr kritisch sehen. Einerseits weil es die betreffenden Bevölkerungsgruppen stigmatisiere. Andererseits weil es polizeilich nicht verwertbar sei: "Da wird ein Zusammenhang suggeriert, der so einfach nicht existiert. Letztlich gibt es in den entsprechenden Bundesländern aber politischen Druck, mit diesem Konstrukt weiterzuarbeiten" so Hunold.
Genauere Informationen dazu finden Sie im Factsheet (PDF) ab Seite 8.Quelle
Von Donata Hasselmann und Lennart Kreuzfeld. Faktencheck: Miriam Sachs
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