MEDIENDIENST: Herr Scherr, wie viele Geflüchtete leben in Jordanien?
Albert Scherr: Die genaue Zahl ist unbekannt. Und es hängt davon ab, wer als "Flüchtling" betrachtet wird. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR spricht von rund 760.000 registrierten Flüchtlingen, 88 Prozent davon aus Syrien. Die jordanische Regierung geht hingegen davon aus, dass allein aus Syrien rund 1,4 Millionen Flüchtlinge im Land leben. Hinzu kommen etwa vier Millionen Palästinenser. Von ihnen werden zwei Millionen als Flüchtlinge betrachtet, sie haben aber überwiegend die jordanische Staatsbürgerschaft. Selbst bei einer konservativen Schätzung heißt das: Von zehn Personen, denen man auf der Straße begegnet, ist eine ein Flüchtling. Jordanien zählt zu den Ländern mit dem höchsten Anteil an Geflüchteten im Verhältnis zur Bevölkerung weltweit.
Wie erlebt das Land die Eskalation im Nachbarland Israel und Gaza?
Jordanien befindet sich in einer Zwickmühle: Als Partner der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union versuchen das Königshaus und die Regierung eine freundschaftliche Beziehung zu Israel zu bewahren. In den vergangenen 30 Jahren haben die zwei Länder ihre wirtschaftliche Zusammenarbeit vertieft. Große Teile der Bevölkerung – palästinensische Flüchtlinge sowie Jordanier*innen – haben dennoch eine feindselige Haltung gegenüber Israel. Es gab zahlreiche Demonstrationen gegen Israel in den vergangenen Wochen. Hinzu kommt eine schwere Wirtschaftskrise: Die Arbeitslosenquote liegt nach offiziellen Angaben bei 23 Prozent. 35 Prozent der Bevölkerung gelten als arm. Eine der größten Sorgen der jordanischen Regierung ist, dass eine neue Eskalation der Gewalt im benachbarten Westjordanland dazu führen würde, dass tausende Flüchtlinge aus Palästina nach Jordanien kommen. Die Grenze zu Israel ist derzeit gesperrt – unter anderem, um Zwischenfälle mit dem israelischen Militär zu vermeiden, aber auch, um Palästinenser daran zu hindern, nach Jordanien zu fliehen.
Prof. Dr. ALBERT SCHERR ist Leiter des Instituts für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Er ist Mitglied im "Rat für Migration" (RfM) und hat zahlreiche Publikationen zur Migrations- und Flüchtlingsforschung sowie zu den Themen Bildung, Diskriminierung und Rassismus veröffentlicht. 2023 ist er als Visiting Professor bei der German Jordanian University in Amman tätig.
Wie geht es Flüchtlingen in Jordanien?
Jordanien nimmt seit Jahrzehnten sehr viele Flüchtlinge auf. Für das kleine Land ist das eine große Herausforderung. Es ist beeindruckend, dass König Abdullah II in einer Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen im vergangenen September Flüchtlinge "unsere Brüder und Schwestern" nannte – sie seien "junge Menschen mit großen Träumen und kleine Kinder, die die Chance verdienen, groß zu träumen". Doch trotz dieser Rhetorik ist die Lebenslage von Geflüchteten sehr schwierig.
Wie sieht ihre Lage denn aus?
Viele Flüchtlinge können ihren Lebensunterhalt nicht selbst finanzieren – und zwar selbst dann nicht, wenn sie erwerbstätig sind. Sie sind ergänzend auf Hilfe des World Food Programm und des UNHCR angewiesen sowie auf Überweisungen von Freunden oder Verwandten aus dem Ausland. Geflüchtete leben oft in den Armutsbezirken der Städte oder in Zeltsiedlungen und notdürftigen Hütten. Geflüchtete Kinder können aus Kostengründen oftmals nicht zur Schule. Etwa die Hälfte der Flüchtlinge über 15 Jahre hat die Schule schon abgebrochen.
Jordanien bekommt aber viel Unterstützung aus der Europäischen Union für die Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten…
Das stimmt. Für die europäische und auch für die deutsche Politik ist Jordanien ein Auffangbecken, das die Zuwanderung nach Europa und Deutschland eindämmen soll. Das ist eine Zielsetzung des sogenannten "EU-Jordan Compact" von 2016. In zehn Jahren hat die EU Jordanien 1,08 Milliarden Euro an Finanzhilfen bereitgestellt; im gleichen Zeitraum hat Deutschland 950 Millionen Euro für die Unterstützung von syrischen Flüchtlingen in Jordanien ausgegeben. In Zusammenhang damit hat die EU die jordanische Regierung aufgefordert, für Geflüchtete einen Zugang zum legalen Arbeitsmarkt zu schaffen. Die Idee ist, dass es politisch durchsetzbarer und wirtschaftlich effektiver ist, Geflüchtete dauerhaft in Drittstaaten unterzubringen, als ihnen die Einreise nach Europa zu ermöglichen. Jordanien war und ist so betrachtet ein Modellfall, an dem das erprobt wurde und wird.
Funktioniert das Konzept?
Nur bedingt. Zum einen hat Jordanien die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet. Es existiert keine staatliche und rechtliche Anerkennung der Flüchtlinge, sondern nur die Registrierung beim UNCHR, die einer befristeten Duldung gleichkommt. Damit ist Flüchtlingen auch der Weg zu einem dauerhaften Aufenthaltsstatus oder zu einer Einbürgerung versperrt. Die beste Option ist für viele Geflüchtete, auf eins der "Resettlement-Programme" zu hoffen, das ihnen die Ausreise in Richtung EU oder USA ermöglicht. Weil nur sehr wenige Geflüchtete in solche Programme aufgenommen werden, wächst der Druck, entweder nach Syrien zurückzukehren oder "illegal" den Weg nach Europa zu versuchen.
Was passiert mit denjenigen, die in Jordanien bleiben?
Bei der langfristigen Integration von Geflüchteten gab es wenig Fortschritte. Obwohl einige von ihnen durch den "EU-Jordan Compact" eine Arbeit gefunden haben, spielen ihre Bedürfnisse und Interessen dabei fast keine Rolle. Aus der Forschung heißt es inzwischen, dass der "Compact" auch wirtschaftlich gescheitert ist: Einige Geflüchtete haben zwar eine reguläre Arbeit gefunden – neue Arbeitsplätze wurden aber dabei nicht geschaffen. Es ist außerdem offensichtlich, dass für die meisten Geflüchteten ein menschenwürdiges Leben mit ausreichendem Einkommen, Schutz vor ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, Zugang zu gesundheitlicher Versorgung und schulischer Bildung außer Reichweite bleibt.
Interview: Fabio Ghelli
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